"Der Westen war weit entfernt"#
Wie haben die Menschen in der DDR-Provinz 1961 den Mauerbau im fernen Berlin erlebt? Vier Zeitzeugen erinnern sich, darunter ein Österreicher.#
Von der Wiener Zeitung (Sa/So, 13./14. August 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Stefan May
Wer durch die neuen deutschen Bundesländer fährt, dem fällt auf, dass die Landschaft anders kultiviert ist, als es das Auge gewohnt ist: Weizen-, Raps-, Maisfelder und Futterwiesen, soweit der Blick reicht. Es ist ein Vermächtnis von 40 Jahren DDR. Sie machte aus privatem Bauernland riesige Agrarflächen für - damals staatlich gelenkte - Produktionsbetriebe, eine Wirtschaftsform, die noch heute im Osten Deutschlands vorherrscht.
Drei Generationen von Vorsitzenden in Freizeitjacken sitzen um einen ovalen Tisch der "Agrargenossenschaft Oberwiera e.G." bei Kaffee und Mineralwasser: Waldemar Siewert, einst linientreu, war der erste Chef der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), zwischen 1954 bis 1966: trotz seiner 87 Jahre agil, mit Hörgerät und strubbeligem weißem Haar. Manfred Kipping, sein Nachfolger, leitete den Betrieb bis zur Wende, kein Parteigänger, sondern einer, der das Überleben im System ohne Konfrontation suchte: Er erinnert im Äußeren entfernt an Manfred Stolpe, den früheren brandenburgischen Ministerpräsidenten. Schließlich Roland Graichen, Vorsitzender nach der Wende und aufgrund seines Engagements in der evangelischen Kirche davor bestimmt nicht auf einem solchen Posten denkbar.
Praktikant Hofer#
Franz Hofer, der Besuch aus Österreich, dessentwegen sie heute hier zusammengekommen sind, reicht ihm gerade bis zur Schulter. Vor 50 Jahren, im Sommer 1961, war der damals 25-jährige Hofer zum Praktikum auf die damalige LPG "Freundschaft" in Oberwiera in Sachsen gekommen. Der erste und einzige Landwirtschafts-Praktikant der DDR aus dem kapitalistischen Ausland.
Hofer steckte damals in der Landwirtschaftsausbildung am Francisco-Josephinum im niederösterreichischen Wieselburg. Auf der Welser Landwirtschaftsmesse war ihm die Präsentation der DDR aufgefallen, die mit den Worten "Wo die Bauern Millionäre sind" überschrieben war. Dieses agrarische Schlaraffenland wollte er näher kennenlernen. Er meldete sich für ein Praktikum und bekam einen Platz in Oberwiera zugewiesen, das nicht nur ein Aushängeschild, sondern auch Ausbildungsstätte des Arbeiter- und Bauernstaates war.
"Wir hatten ein gutes Verhältnis", sagt Waldemar Siewert. "Der Franzl war auch in dem ganzen Kollektiv gut aufgenommen worden." Heute traut sich "der Franzl" Dinge aufgrund des Abstands der Zeit und der geänderten Verhältnisse offen auszusprechen: "Ich habe gesagt: Der Siewert, der ist überzeugt, der glaubt dran." Dieser sagt nichts dagegen, legt lediglich die Hand als Trichter hinters Ohr, um nichts zu überhören, was gegebenenfalls doch zum Widerspruch herausfordern könnte.
Nach dem Krieg war er nach Oberwiera gekommen und hatte 1953 die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft gegründet: 120 Hektar, 18 Mitarbeiter, der frühere Eigentümer wurde sein Stellvertreter. Dass sich die "Freundschaft" zu einer Vorzeige-LPG mit guten Ergebnissen entwickelte, mag daran liegen, dass Siewert nicht wie anderswo in der DDR darangegangen war, die Bauern in die Genossenschaften zu zwingen, sondern versucht hatte, sie in unzähligen langen Gesprächen zu überzeugen und ihnen eine Perspektive im Betrieb zu verschaffen. "Das ist dem Waldemar sein Verdienst, der ist ordentlich umgegangen mit den Leuten", konzedieren ihm die anderen am Tisch.
1961 kam die Zäsur? "Nö", sagen die Männer, den Mauerbau habe man hier im tiefen Ostdeutschland nicht so recht registriert. "Aus bäuerlicher Sicht war die revolutionäre Zeit 1960", sagt nach einigem Nachdenken Manfred Kipping, womit er den sogenannten "sozialistischen Frühling" meint. "Eigentümer waren wir ohnehin nicht mehr. Da hatte der Mauerbau keine Bedeutung. Der entscheidende Punkt war für uns, dass wir in die LPG eintreten mussten." "Mussten", echoen die anderen nachdrücklich.
Franz Hofer war im August 1961 bereits einige Wochen in Oberwiera. Er hatte sich seinen Arbeitsplatz aussuchen dürfen und sich zur Traktorenbrigade gemeldet. Hätte er die Stallarbeit gewählt, wäre er wochenlang nicht vom Hof gekommen. Und da die LPG mehrere Gemeinden umfasste, rechnete er sich aus, als Traktorist einiges von der Gegend und dem Leben dort zu sehen.
"Zuerst haben alle sehr dienstlich mit mir gesprochen, weil sie meinten, ich wäre von der österreichischen kommunistischen Partei delegiert gewesen", erinnert sich Hofer. Das habe sich aber schnell gegeben. In den Pausen sei stets politisiert worden. Nur wenn Parteinahe den Raum betreten hätten, wäre blitzartig das Thema gewechselt worden und man habe über Frauen gesprochen.
Der 13. August 1961 war ein Sonntag, und Franz Hofer hatte frei. Er war nach Leipzig gefahren, um sich die Stadt anzusehen. Aus den öffentlichen Lautsprechern erfuhr er dort erstmals von den Vorgängen in Berlin, vom Mauerbau. Zwischen Marschmusik zwängte sich die Rechtfertigung des Regimes für die Errichtung des "antifaschistischen Schutzwalls gegen die Saboteure". Angst? Er kann sich nicht an ein solches Gefühl erinnern. Im Gegensatz zu seinen Angehörigen in Oberösterreich, die fürchteten, er werde nun nicht mehr ausreisen dürfen. Die gedrückte Stimmung im Betrieb tags darauf sei ihm aber noch gegenwärtig, sagt Hofer. Einer habe gesagt: "Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich noch gestern abgehauen." Nach ein paar Tagen wäre ein Teil der Antennen von den Dächern im Dorf entfernt worden.
"Ich war damals 21 Jahre alt", sagt Roland Graichen zögernd. "Es war dann nicht mehr die Entscheidung: Gehe ich oder bleibe ich. Da wusste jeder: Jetzt musst du hier bleiben." Verzweiflung? "Resignation", antwortet Manfred Kipping in einem Ton, als hielte dieses Gefühl für sein restliches Leben an. "In dem Moment, in dem wir in der LPG waren, war der Westen weit entfernt."
Nach zwei Monaten auf der LPG fuhr Franz Hofer wie geplant heim nach Österreich. Er wurde Agrarjournalist in Linz, doch den Kontakt zur "Freundschaft" in Oberwiera hielt er aufrecht: Immer wieder organisierte er Fahrten für oberösterreichische Bauern nach Sachsen. "Erst machte ich es, um unseren Leuten zu zeigen, wie gut es ihnen zu Hause geht", erzählt er später im Auto. Viele seiner sonst gerne murrenden Landsleute wären nach dem Besuch des Agrargroßbetriebs sehr zufrieden mit ihrem Schicksal in die Heimat zurückgekehrt.
Nach der Wende habe er die Studienreisen zu dem von der LPG zu einer Agrargenossenschaft gewandelten Betrieb fortgesetzt, "um zu zeigen, wie es möglicherweise auch bei uns weitergehen könnte".
Regelmäßig prallen bei solchen Besuchen die Kulturen aufeinander: Die Oberösterreicher, in wuchtigen, von üppigem Blumenschmuck überquellenden Erbhöfen auf Hügelkuppen daheim, mit Blick auf die eigenen Felder rundum, verteidigen dann ihr Modell. "Das ist mein Grund und Boden", wiederholen sie ein ums andere Mal erregt in der Diskussion, als könne es gar keinen anderen Gedanken geben. Da mögen die Gesprächspartner vor den nüchternen Garagen- und Speicherkomplexen, hinter denen sich gleichförmig riesige Weizen- und Kartoffelfelder bis zum Horizont erstrecken, noch so sehr die Vorteile ihrer Genossenschaft hervorheben: Freizeit, Sozialversicherung, Rente, Urlaub. Freies Unternehmertum seit Generationen steht da dem Angestellten-Denken gegenüber. Die DDR hat einen bäuerlichen Gegenentwurf geschaffen und in 40 Jahren vielerorts seine Vorteile unverzichtbar werden lassen. Vornehmlich bei den Jungen, die nie selbständige Bauern gewesen sind.
"Das ist in den Köpfen gewachsen im Lauf der Zeit", erinnert sich Roland Graichen. "Andere haben das bis 1990 nicht verwunden." Selbst bei den Willigen ist aber bereits lange davor die Euphorie und die Initiative für die staatlich gelenkte LPG verloren gegangen. Der Futteranbau habe zu wenig gebracht, um das Vieh zu füttern, sagen die Männer. Die Kühe hätten gehungert und deshalb wenig Milch gegeben. Statt mit weniger Kühen denselben Milchertrag zu erzielen, hätten sie den Bestand halten müssen.
Franz Hofer erinnert sich, dass einmal ein LKW aus Berlin Silofutter brachte, um Abhilfe in der Misere zu schaffen. "Die hatten aber keine Plane zum Abdecken, und so kam nur die Hälfte des Futters hier an", sagt er. "Von Organisation hatte man im Sozialismus keine Ahnung", schimpft Manfred Kipping. "Ein Sauhaufen sondergleichen, das muss gesagt werden."
Und dann kommen sie doch noch einmal auf das Mauerbaujahr zu sprechen: "Ab 1961 gab es schon ein Problem: der Dirigismus vom Staat hat zugenommen", sagt Waldemar Siewert. "Wir hatten uns Gedanken gemacht über den Anbau, aber das wurde durchkreuzt. Wir hatten den Plan zu erfüllen. Und die Kleintechnik, die wir dringend gebraucht hätten, haben wir nicht gekriegt."
Neue Zeiten#
Zeiten und Systeme ändern sich, der Ärger bleibt: "Dort sind wir heute wieder", sagt Marcus Berger, technischer Leiter in Oberwiera und Sohn des derzeitigen Genossenschafts-Vorsitzenden: "Die Verschleißteile sind so teuer oder so fehlerhaft, dass man sie besser selbst produziert. Oder man geht zu einem Schmied im Ort. Die Qualität und Haltbarkeit der Produktionsmittel lässt sehr zu wünschen übrig."
Hinzu kommt die zunehmende Unduldsamkeit im Ort: Städter ziehen aufs Land und beschweren sich über verunreinigte Straßen oder das Ausbringen von Gülle. Schließlich hat die Genossenschaft noch mit der EU zu kämpfen, die vorschreibt, wann welche Flächen gepflügt werden dürfen. 33 Mitarbeiter, 1208 Hektar Anbaufläche und mehrere hundert Rinder hat der Betrieb heute.
Er habe sich schon damals gut mit den Leuten von Oberwiera verstanden, resümiert Franz Hofer später, während der Heimfahrt im Auto, als es draußen über den weiten sächsischen Ackerflächen schon Abend wird. Zu Weihnachten 1961 hätte ihm der Betrieb "Das Kapital" von Marx geschickt. Hofer lächelt verschmitzt: "Der Waldemar hat sich sogar erinnert und mich heute gefragt, ob ich es gelesen habe."
Rein rechtlich hat sich ja eigentlich für die Bauern in der DDR gar nichts Revolutionäres abgespielt, meint Hofer dann ein wenig provokant: Sie wären Eigentümer ihres Grundes und Bodens geblieben, aber der Besitz und das Verfügungsrecht seien auf die Genossenschaft übergegangen. Was das bedeutete, sieht man heute noch auf der Fahrt durch Deutschlands Osten.
Stefan May, geboren 1961, ist Jurist, Journalist und Buchautor. Er lebt in Berlin und Wien.