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Die Idee der Freiheit überlebt#

Der erste Aufstand gegen eine kommunistische Diktatur wird im Juni 1953 niedergeschlagen#


Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 12. Juni 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Christine Zeiner


Vor 60 Jahren forderten in der DDR Hunderttausende freie Wahlen.#

Sowjetische Panzer, 1953
Sowjetische Panzer walzen 1953 in der DDR die Hoffnung auf eine Verbesserung der Zustände nieder.
© Deutsche Bundesregierung/Perlia-Archiv

Ob er denn den Dritten Weltkrieg auslösen wolle? Aufgebracht kam Gordon Ewing am Abend des 16. Juni 1953 zu Egon Bahr. Der Chefredakteur des Rundfunks im Amerikanischen Sektor, RIAS, hatte gerade gesendet, dass sich am nächsten Tag in der Früh Streikende auf dem Ost-Berliner Strausberger Platz treffen würden. Es sollten möglichst viele kommen, das war die Intention Bahrs: Der RIAS wurde auch in der DDR gehört. Ewing, der US-amerikanische RIAS-Direktor, war fassungslos. "Wir aber hatten die Sorge, wenn da nur ein paar Hansln sind, werden die sofort verhaftet", sagt Bahr, späterer Staatssekretär und enger Vertrauter des sozialdemokratischen Kanzlers Willy Brandt.

Der 91-Jährige ist an seinen ehemaligen Arbeitsplatz im West-Berliner Bezirk Schöneberg gekommen, wo heute das "Deutschlandradio" seinen Sitz hat. Vor 60 Jahren stand hier eine Abordnung streikender Ost-Berliner vor seinem Schreibtisch: Der amerikanische Sender sollte zum Generalstreik in der "Zone" aufrufen. "Das war völlig unmöglich", sagt Bahr. Doch der RIAS, befand Bahr, konnte informieren. "Ich fragte also nach den konkreten Forderungen, wir formulierten das in ein vernünftiges Deutsch, und ich sagte: ,Das werden wir senden.‘ Und das haben wir auch gemacht."

Das große Aufbegehren#

Das Klima in der DDR hatte sich in den vergangenen Monaten mehr und mehr verschärft, wirtschaftlich und politisch. Die Ablehnung gegen die DDR war enorm. Doch dass die Menschen tatsächlich in dieser Form aufbegehren könnten, habe niemand vorausgesehen, sagt Bahr.

Es sollte der erste große nationale Aufstand gegen eine kommunistische Diktatur werden - der Anfang einer Entwicklung, die 1989 in die friedliche Revolution mündete. Die "Idee der Freiheit", der "Kampf für Demokratie" verbinde die Aufstände, die Bewegungen von 1953, 1956 (Ungarn), 1968 (CSSR) und jene der 1980er Jahre in Polen und schließlich in der DDR, sagte der damalige Parlamentspräsident Wolfgang Thierse anlässlich des 50. Jahrestags im Bundestag. "Beide Daten, 1953 und 1989, gehören zusammen."

Nicht nur in Berlin, überall in der DDR sind am 17. Juni 1953 die Menschen auf der Straße. Eine Million macht bei den Aufständen mit, bisher hat die Forschung 700 beteiligte Orte nachgewiesen - viele Kreisarchive sind noch nicht untersucht.

Schon an den Tagen vor dem 17. Juni sind etliche in den Ausstand getreten. In den Dörfern geht es los. Die Menschen sind wütend über die bestehenden Verhältnisse. Man stürmt Gefängnisse, zieht zur SED-Kreis- und Bezirksleitung, zu den Gerichten. Der RIAS wird mitunter als "Drahtzieher" bezeichnet. Zweifelsfrei spielt der Sender eine wichtige Rolle, er wird überall gehört - ausgelöst hat die Rundfunkanstalt die Erhebung aber nicht. "Der Aufstand wäre auch ohne den RIAS gekommen", sagt der Historiker Jens Schöne. Die Ursachen dafür, dass die Menschen auf die Straße gehen, nehmen lange vor dem Juni 1953 ihren Anfang.

1949 wird die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Stalin gibt erst 1952 den Weg für den Aufbau des Sozialismus in der DDR frei - er hat umsonst auf ein vereintes und, wie er es nannte, "neutrales" Deutschland gehofft und den Westmächten Verhandlungen angeboten. In der zweiten Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) wird also der planmäßige Aufbau legitimiert. Ein Fokus liegt auf der Schwerindustrie, die Landwirtschaft wird kollektiviert, Gaststätten, Pensionen und andere Betriebe werden enteignet, die Kirchen bekämpft.

Immer mehr Menschen verlassen die DDR. Aufgrund des Gesetzes zum Schutz des Volkseigentums werden Hunderte zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Darunter sind Heizer, die ein paar Kohlestücke mitgehen lassen, weil sonst für zu Hause kein Material zu bekommen ist, und Frauen, die zwei, drei Kartoffeln vom Acker nehmen. Während sich in der BRD zarte Anzeichen eines Aufschwungs zeigen, wird die Versorgungslage immer schlechter. Zu Ehren des 60. Geburtstags vom Vorsitzenden des SED-Zentralkomitees, Walter Ulbricht, wird für 1953 eine "Erhöhung der Arbeitsnorm" eingeführt - Lohnkürzungen.

Die Zeit nach Stalin#

Doch am 5. März stirbt Stalin. Die SED-Führung wird nach Moskau einbestellt. Ihr wird mit den "Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR" die Bankrotterklärung ihrer bisherigen Politik vorgelegt. Der "Neue Kurs", der nun gefahren werden soll, stellt unter anderem eine Abkehr des harten Umgangs mit Bauern, Gewerbetreibenden, Christen in Aussicht und die Entlassung aller mit einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren. Die Tageszeitung "Neues Deutschland" kommuniziert den "Neuen Kurs" am 11. Juni 1953. Von personellen Konsequenzen ist keine Rede. Die Gewerkschaft bezeichnet unterdessen die "Normerhöhungen" als richtig. Das befeuert die ohnehin schlechte Stimmung in der Bevölkerung.

Zehntausende ziehen am 16. Juni 1953 zur Ecke Wilhelmstraße/Leipzigerstraße in Ostberlin. Im einstigen von den Nazis erbauten Sitz des Reichsluftfahrtministeriums befindet sich das "Haus der Ministerien". Die Demonstranten fordern nicht mehr nur, die "Normerhöhungen" auf der Stelle zurückzunehmen. Sie fordern freie Wahlen.

Eine Handvoll Protestierender macht sich auf zum RIAS. Bahr diskutiert mit Ewing: "Ein dritter Weltkrieg? Das ist politisch undenkbar", entgegnet er dem Direktor. Das könne Bahr nicht garantieren, lautet die Antwort Ewings, und übermittelt ihm die Weisung von oberster Stelle in Bonn, die Sendungen zur Erhebung in der DDR sofort aus dem Programm zu nehmen.

Die Proteste hören nicht auf. Am nächsten Tag ist Günter Döhring, Jahrgang 1935, unter den Demonstranten. "In der Stalin-Allee lagen überall Parteiabzeichen auf dem Boden", berichtet er. Zum 70. Geburtstag Josef Stalins war die Frankfurter Allee in "Stalin-Allee" umbenannt worden. "Allee des Irrtums" nennt sie Döhring. Er wird verhaftet. "Ich wurde zusammengeknüppelt, auf den Rasen geschleift, an den Beinen gepackt, auf einen Lkw verfrachtet." Döhring hat Tränen in den Augen. Die Rückkehr an die damaligen Schauplätze reißt Wunden auf.

Döhring erzählt seine Geschichte im ehemaligen Untersuchungsgefängnis in der Keibel-straße. Gleich hinter dem Alexanderplatz, wo es heute so wuselt mit all den Touristen, Straßenkünstlern und Wurstverkäufern, befand sich das Polizeipräsidium. "Wir wurden abgeladen, immer zwei Mann. Ich hatte noch meine Maurer-Mütze auf. ,Du mit der weißen Mütze‘, hieß es, dann ging es die Treppen runter, da mussten wir dann zwei Stunden an der Wand stehen, die Arme in der Höhe. Dann kamen wir in ein Zimmer, 28 Mann, 14 Betten, Kaltwasser, eine Toilette."

Panzerkommunismus#

Schon am Vormittag sind sowjetische Panzer in die Städte und Dörfer gerollt. Auf den Fotografien sieht man Demonstranten, die auf die Panzer einschlagen, man sieht Kioske und Baracken in Flammen aufgehen und demolierte SED-Einrichtungen. Die Volkspolizei ist hilflos. Doch die sowjetischen Truppen sind übermächtig. An etlichen Orten genügt oft bereits die Präsenz der Panzer acht Jahre nach Kriegsende, und die Aufstände zerschlagen sich. "Wenn es das Eingreifen der Sowjetunion nicht gegeben hätte, wir hätten schon damals die Einheit bekommen", sagt Bahr.

Symbolträchtig erhob die BRD den 17. Juni zum Nationalfeiertag. Jahrzehntelang, von 1954 bis 1989, wurde an diesem Tag die "Einheit" hochgehalten. Unterdessen, ab 1961, teilte die Mauer die Stadt, die BRD verfolgte die Politik der Westbindung und unter Brandt und Bahr eine "Neue Ostpolitik", einen "Wandel durch Annäherung". 1989 gingen die Menschen in Ostdeutschland erneut auf die Straße: "Wir sind das Volk." Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der BRD bei.

Wiener Zeitung, Mittwoch, 12. Juni 2013