Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Ziemlich beste Vermutungen#

Das Zurechtmachen der Antike seit dem im Altertum hat Auswirkungen auf unser Geschichtsbewusstsein.#


Von der Wiener Zeitung (Mittwoch, 20. April 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Edwin Baumgartner


Pyramiden
Wer ließ die Pyramiden erbauen? Waren es Cheops, Chefren und Mykerinos oder Chufu, Chafre und Menkaure?
© wikipedia/Ricardo Liberato

"Kann bitte endlich jemand Schriftzeichen für Vokale erfinden?", seufzt Emil Heise, nachdem er wieder einmal mit Milo Haas verwechselt wurde. ML HS - das kann mancherlei heißen.

Dabei hat Emil Heise dieses Problem gar nicht wirklich. Er musste nur herangezogen werden, um es zu verdeutlichen. Emil Heise lebt nämlich in einem Kulturkreis, dessen Schriften Vokale schreiben. Dafür kann er sich bei den Griechen bedanken, die das phönizische System perfektionierten und an die Römer weitergaben, von denen wir es gelernt haben. Doch wehe den Namen, die nur in Konsonantenschrift niedergeschrieben wurden.

Jüngst gab es so einen Fall, als das Grab der gewissen Hauptgemahlin des Echnaton für gefunden erklärt und zur Jahrhundert-Sensation ausgerufen wurde: Als "Nofretete" ist sie bekannt. Nur: So hieß sie nicht. Nefertiti war ihr richtiger Name.

Wir lesen nicht Buchstaben, wir lesen einen Sinn. Bei einem solchen Text wäre es genug, nur Konsonanten zu schreiben - mühsam liest sich das, aber nicht unverständlich: Ds Knd ght n d Schl (das Kind geht in die Schule) oder: Ds Bch lgt f dm Tsch (das Buch liegt auf dem Tisch). Zahlreiche Abkürzungen, die wir verwenden, funktionieren auf diese Weise.

Die Antike spricht Griechisch#

Namen aber haben für sich keinen Sinn. Das macht die Sache schwierig, wenn die Vokale ausgelassen sind. Erik oder Raiko? Anton oder Nat(h)an?

Bei der Verschreibung der antiken Namen aus dem nicht-griechischen Kulturraum stecken die Griechen dahinter. Ihre Sprache war die Lingua franca der Antike, sozusagen das Englisch der drei bis zwei vorchristlichen Jahrhunderte und zumindest der beiden ersten nachchristlichen auch noch. Die Ohren waren am Griechischen geschult, an den klangvollen Abfolgen von Konsonanten und vielen Vokalen. Man gräzisierte, was fremd anmutete. Ägyptische Namen zum Beispiel - und keineswegs nur Nefertiti. Die Pyramide des Chufu? Die des Menkaure? Eben erst gefunden? Keineswegs. Chufu ist der richtige Name des Cheops, Menkaure der des Mykerinos. Dass sich hinter Chafre der altbekannte Chefren verbirgt, kann man wenigstens ahnen.

Einwand: Das sind Detailfragen, die nichts ändern an der Geschichte. Korrekt: Sie ändern nichts an der Geschichte. Aber sie ändern etwas am Geruch, den Geschichte verströmt. Was geschieht etwa, wenn man über eine solche Namensverschreibung einen anderen Kulturkreis suggeriert?

Um 100 vor Christus war die griechische Übersetzung des Tanach abgeschlossen, jener Schriften, die im Christentum als "Altes Testament" zusammengefasst sind. Das Neue Testament ist gleich durchgehend in Griechisch geschrieben, vielleicht ein Signal, dass die griechische Philosophie jetzt zur jüdischen hinzukommt.

Da sind wir beim Punkt: Sowohl das Alte als auch das Neue Testament stehen fest im Judentum. Der weise König hieß Schlomo, nicht Salomon, Jesaja hieß Jeschajahu und Jesus Jeschua. Ohne die Gräzisierung der jüdischen Namen: Hätte es den jahrhundertelangen christlichen Antisemitismus überhaupt geben können? Wäre dieser Antisemitismus möglich gewesen, wäre ein eindeutig jüdischer Jeschua der Meschiach und nicht ein griechisch-römischer Jesus der Christus?

Jede Zeit baut sich ihre Vergangenheit. Bis in die Aufklärung war das Geschichtsbewusstsein schwach ausgeprägt. Pieter Bruegel der Ältere malt 1565 den "Bethlehemitischen Kindermord" mit den Gewändern seiner Gegenwart, samt einer Schar Ritter im Harnisch.

Wie schaut unsere jüngste Vergangenheit auf die Antike, die sie seit der Renaissance Schritt für Schritt entdeckte? Da erfolgt eine Prägung auch durch historische Romane, durch romantische Verklärung. Die eigene Kultur wird der antiken übergestülpt, man will in den alten Zeiten sehen, was zum eigenen Gedankengebäude passt.

Es geht gar nicht anders. Auch wir sind Kinder unserer Zeit. Auch unser Blick auf die Antike ist beeinflusst von unserem Lebensgefühl, von unseren Erfahrungswerten. Aber mit unseren ziemlich guten Vermutungen, die morgen bessere sein werden, kommen wir der Sache näher. Wichtig ist, die Haltung des Wissenschafters einzunehmen, der in den seltensten Fällen mit Anspruch auf unkorrigierbare Autorität sagt: So war es und nicht anders. Viel eher sollte man sich auf den Standpunkt stellen, der stets eingeleitet wird mit: Nach heutigem Wissen...

Neuer Blick, aber falscher Winkel?#

Man muss sich bewusst machen, dass die Wissenschaft, trotz des rasant anwachsenden Kenntnisstandes, nicht alles weiß und jederzeit Umwertungen möglich sind. Der jahrhundertelang als Oberschurke der Antike agierenden Kaiser Nero etwa erwies sich, dank neuerer quellenkritischer Lesung der Dokumente, als Opfer der antiken wie der christlichen Geschichtsschreibung. Beiden war ihr Schatten eine unüberspringbare Barriere. Wird sich das Umdenken auch bei Caligula einstellen, dessen allgemeine Beurteilung immer noch zwischen Psychopath und total gaga schwankt, während der deutsche Althistoriker Aloys Winterling einen Zyniker vorschlägt, der dem Senat dessen völlige Machtlosigkeit mit, zugegeben, grotesken Mitteln vor Augen führte?

Was geschieht, wenn ein Forscher in allzugroßer Selbstüberzeugung handelt und sich nicht bewusst macht, dass er, gerade kulturell, ein Kind seiner eigenen Zeit und nicht der Antike ist, hat der Brite Sir Arthur Evans vorgeführt. Seither haben wir das Fragezeichen der Minoischen Kultur.

Dabei braucht man nicht einmal so weit zu gehen wie Sean Hemingway, Kurator des Metropolitan Museum of Art, der laut dem türkisch-deutschen Schriftsteller Erdogan Ercivan sagt: "Meiner Ansicht nach wurde die uns heute bekannte und von einigen Archäologen als authentisch suggerierte Kultur der Minoer zwischen 1900 und 1932 mit viel Geschick und Fantasie erfunden, woran Evans nicht unbeteiligt war."

Zugegeben: Ercivan vermutet ein wenig zu oft Fälschungen und Manipulationen hinter Erkenntnissen über die Antike, um selbst in diesem Bereich völlig glaubwürdig zu sein. Aber nur, weil er zu oft zweifelt, ist nicht, quasi als Reaktion auf diesen Zweifel zu viel, alles bare Münze, was als solche ausgegeben wird.

Evans hat nun einmal rekonstruiert und dabei die eigene Meinung und den eigenen viktorianisch geprägten Geschmack einfließen lassen. Es ist eine Frage des Ausmaßes. Der Vorwurf, dass Evans’ Rekonstruktionen dubios seien, wurde schon zu seinen Lebzeiten erhoben. Zwischen fehlerhafter Rekonstruktion und frei erfundener Kultur liegen freilich Welten. Nach heutigem Wissen weiß man nichts Endgültiges. Das macht sicher in Hinblick auf die Sauberkeit der Diskussion.

Ähnlich ist es im Fall des Priamos-Schatzes. Wie schön wäre es, hätte man da ganz gesichert frühgriechische Arbeiten. Aber wer garantiert, dass Heinrich Schliemann nicht doch zum Athener Goldschmied gegangen war, um die antiken Fundstücke zur alsbaldigen Auffindung anfertigen zu lassen - zumindest die wesentlichen? Ernst Bötticher erhob Ende des 19. Jahrhunderts den Vorwurf ebenso wie vor ein paar Jahren die Zeitschrift des "Archaeological Institute of America". Schliemanns Schlitzohrigkeit könnte unser Bild von der Antike maßgeblich mitgeprägt haben. Die frühgriechische Kultur - die Arbeit eines Athener Goldschmieds von 1873?

Vermutungen von heute als Irrtümer von morgen#

Auch jetzt, in unserer unmittelbaren Gegenwart, stehen wir vor einem verwandten Problem: Wiederaufbau der vom IS zerstörten antiken Stätte von Palmyra oder nicht? Wir wissen viel über Palmyra, die antike Stätte ist bis auf den Millimeter vermessen. Dennoch: Es wird ein Aufbau nach heutigem Kenntnisstand sein, mit heutigem Gerät und heutigen Händen. Es wird, mit viel mehr Kenntnis und Feingefühl - dennoch: Es wird ein wenig von dem sein, was Evans machte. Eine Evanserei in gutem Glauben - den hatte auch er unbestritten. Vielleicht jedoch wird gerade dadurch der Geist aus den alten Steinen getrieben. Ziemlich beste Vermutungen von heute, ob bei Namen oder Mauern, können die Irrtümer von morgen sein.

Wiener Zeitung, Mittwoch, 20. April 2016