Seite - 94 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Bild der Seite - 94 -
Text der Seite - 94 -
Blick auf die brasilianische Kultur
Seit vierhundert Jahren kocht und gärt in der ungeheuren Retorte dieses
Landes, immer wieder umgeschüttelt und mit neuem Zusatz versehen, die
menschliche Masse. Ist dieser Prozeß nun endgültig beendet, ist diese
Millionenmasse schon Eigenform, Eigenstoff geworden, eine neue Substanz?
Gibt es heute schon etwas, was man die brasilianische Rasse nennen kann,
den brasilianischen Menschen, die brasilianische Seele? In Hinsicht auf die
Rasse hat der genialste Kenner des brasilianischen Volkstums, Euclides da
Cunha, längst die entscheidende Verneinung gegeben, indem er glatt
erklärte: Não há um tipo antropológico brasileiro, »es gibt keine
brasilianische Rasse«. Rasse, sofern man diesen dubiosen und heute
überbewerteten Begriff, der doch mehr oder minder nur einen
Übersichtsbehelf darstellt, überhaupt verwerten will, meint tausendjährige
Gemeinsamkeit von Blut und Geschichte, während bei einem richtigen
Brasilianer alle im Unbewußten aus Urzeiten schlummernden Erinnerungen
gleichzeitig träumen müssen von den Ahnenwelten dreier Kontinente, von
europäischen Küsten, afrikanischen Krals und amerikanischem Urwald. Der
Prozeß des zum Brasilianer Werdens ist nicht nur ein Assimilationsprozeß an
das Klima, an die Natur, an die geistigen und räumlichen Bedingtheiten des
Landes, sondern vor allem ein Transfusionsproblem. Denn die Mehrzahl der
brasilianischen Bevölkerung – abgesehen von den spät Eingewanderten –
stellt ein Mischprodukt dar und zwar eines denkbar vielfältigster Art. Nicht
genug an der dreifach verschiedenen Heimat, der europäischen, der
afrikanischen, der amerikanischen, ist jede dieser drei Schichtungen in sich
selbst wieder neuerdings geschichtet. Der europäische Erstling in diesem
Lande, der Portugiese des sechzehnten Jahrhunderts, ist alles weniger
als einrassig oder reinrassig; er stellt ein Gemenge dar aus iberischen, aus
römischen, gotischen, phönizischen, jüdischen und maurischen Vorfahren.
Die Urbevölkerung des Landes wiederum zerfällt in ganz artfremde Rassen,
die Tupís und die Tapuyas. Und erst die Neger; aus wievielen Zonen des
unübersehbaren Afrika waren sie zusammengetrieben! All das hat sich
ständig gemischt, gekreuzt und außerdem noch erfrischt durch den ständigen
Zustrom neuen Bluts durch die Jahrhunderte. Aus allen Ländern Europas und
schließlich mit den Japanern noch aus Asien hier herübergekommen,
vervielfältigen und variieren sich diese Blutgruppen in unübersehbaren
Kreuzungen und Überkreuzungen ununterbrochen im brasilianischen Raum.
Alle Schattierungen, alle physiologischen und charakterologischen Nuancen
sind hier zu finden; wer in Rio über die Straße geht, sieht in einer Stunde
mehr eigenartig gemischte und eigentlich schon unbestimmbare Typen als
sonst in einer anderen Stadt in einem Jahr. Selbst das Schachspiel mit seinen
94
zurück zum
Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197