Seite - 135 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Die kleinen Straßen
Diese großen Boulevards sind das Neue, das Grandiose an Rio; weniges der
Welt kann ihnen an Großartigkeit der Anlage und an landschaftlicher
Schönheit verglichen werden. Aber sie sind Fahrstraßen, Paradestraßen,
moderne, internationale Straßen, und ich liebe noch mehr als ihre blendende
Pracht die kleinen Straßen, die namenlosen, die ungeachteten, die einen
wandern lassen, ohne daß man weiß wohin, die einen ununterbrochen mit
kleinem, natürlichem, südlichem Charme entzücken und um so romantischer
wirken, je ärmer, je urtümlicher, je anspruchsloser sie sind. Auch die ärmsten
– und gerade diese – sind voll von Farbe und Leben und wechselndem Bild.
Man kann sich nicht satt sehen an ihnen. Nichts in ihnen ist hergerichtet,
appretiert für den Fremden, nichts fotografierbar, und ihr Zauber ist nicht die
Architektur, die Struktur, sondern gerade das Gegenteil, das lebendige
Durcheinander, das Zufällige, das jede einzelne Gasse attraktiv macht und
jede in einem anderen Sinne. Spazierengehen, eine alte Lust von mir, ist für
mich in Rio geradezu zum Laster geworden; wie oft bin ich für eine
Viertelstunde in Rio ausgegangen und, von einer Gasse zur andern verführt,
nach vier Stunden zurückgekommen, ohne mich des Wegs zu erinnern oder
eines einzigen Namens in dieser Stadt der ewigen Entdeckungen und
Entzückungen. Und doch, nie hatte ich das Gefühl, ich hätte Zeit verloren
oder vertan.
In den kleinen, engen Straßen von Rio herumzustreichen heißt
zurückwandern in der Zeit. Man ist in einer kolonialen Welt, wo alles noch
nahe, noch handlich, noch offen war, wo noch nicht die Autos sausten und die
Verkehrslichter blitzten, wo man noch gemächlich ging, nicht viel mehr
suchend als den Schatten, der das Schlendern angenehmer machte. Selbst die
vornehmsten Gassen waren schmal; man sieht es noch heute an der Rua do
Ouvidor, der alten Straße der noblen Geschäfte. Kein Wagen darf sie
durchfahren – wie die Florida in Buenos Aires – und er käme auch gar nicht
vorwärts, denn tagsüber drängt dort ein bunter Schwarm; jeder richtige
Carioca kommt ein paarmal des Tags durch, es ist die große Promenade, der
Treffpunkt, Kopf an Kopf, so dicht und belebt, daß man kaum einen Zoll des
Pflasters sieht, wandert, plaudert, eilt hier ein unaufhörliches Getriebe, das
durch die Abwesenheit des sonst infernalischen Autolärms diesen Korso zu
einem unerschöpflichen Vergnügen macht. Aber dann links oder rechts weiter
durch Gassen und Gäßchen; es hat keinen Sinn, nach dem Namen zu fragen,
man kann sich ihn ja doch nicht merken. Lang und schmal kreuzen und
überschneiden sie sich ständig, und zwischendurch führt dann eine breite mit
rasselnden Trambahnen – jede überfüllt – oder hupenden Automobilen; keine
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197