Seite - 138 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Kunst der Kontraste
Um spannend zu wirken, muß eine Stadt starke gegensätzliche Spannungen in
sich haben. Eine bloß moderne Stadt wirkt monoton, eine rückständige wird
auf die Dauer unbequem. Eine proletarische bedrückt, und von einem
Luxusplatz wieder strömt nach kurzer Zeit eine mißmutige Langeweile aus. Je
mehr Schichten eine Stadt besitzt, und in je farbigerer Skala ihre Gegensätze
sich abstufen, desto anziehender wird sie wirken: so Rio de Janeiro. Hier
spannen sich die Enden weitestens auseinander und gehen doch mit einer
besonderen Harmonie ineinander über. Der Reichtum wirkt hier nicht
provokant; die feudalen Häuser, die mit einem erstaunlichen Geschmack
eingerichtet sind, zeigen an sich keine auffälligen Fassaden. Sie liegen
verstreut irgendwo im Grünen mit schönen Gärten und Teichen und einem
gewählten, meist altbrasilianischen Mobiliar; dadurch, daß sie nicht städtisch-
prunkvoll sind, sondern ganz der Natur verbunden, wirken sie als etwas
organisch Gewachsenes und nicht hochmütig vor das Auge Gestelltes; man
muß sie eigentlich suchen, um sie zu finden, aber wenn man die Freude hat, in
einem dieser Häuser zu Gaste zu sein, wird man des Bewunderns nicht müde;
denn von jedem Innenraum geht hier durch die offenen Türen der Blick in die
Landschaft hinaus. In dem Garten spiegeln künstliche Teiche chinesische
Pavillons, offene Veranden mit kühlen Fliesen und alten portugiesischen
Azulejos geben gleichzeitig Gelegenheit, den weichen Atem der Blumen und
Bäume zu fühlen, und schützen doch vor dem heftigen Andrang des Lichts.
Nichts ist hier überladen und provokant, denn der Reichtum liegt hier meist in
den Händen der alten Familien, die in Kultur und Tradition erzogen sind; was
sie sammeln, sind meist die alten kolonialen Kunstwerke, die Bilder und
Bücher ihrer eigenen Heimat. So fehlt der sonst oft mißliche Eindruck des
Zusammengeräumten und wahllos Zusammengehäuften. Gerade in diesen
feudalen Häusern versteht man erst die alte Herkunft der brasilianischen
Kultur. Aber nur zwei Schritte von der wohlgekiesten Ausfahrt, und man kann
in einem Negerdorf sein oder in einem Armenviertel und – vom gleichen
dunklen Grün umhegt, vom gleichen strahlenden Licht gebadet – stört nicht
eines das andere; in gewissem Sinne ist hier durch die bindende Kraft der
Natur der Gegensatz zwar nicht aufgehoben aber doch gelöster gemacht, und
dieses ständige weiche Ineinanderspielen der Kontraste will mir als das
Charakteristische an Rio de Janeiro erscheinen. Das Hochhaus und die Hütte,
die schimmernden Boulevards und die schmalen niederen Straßen, der flache
Strand und die trotzig ihre Häupter aufreckenden Gebirge, alles scheint sich
eher zu ergänzen als zu befeinden. So hat das Leben hier freieres Spiel für alle
Formen; man kann in einer luftgekühlten Konditorei, die in den Preisen an
New York erinnert, sein Eis nehmen, und um die Ecke, oft noch im selben
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197