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Besuch hei den versunkenen Goldstädten
Vila Rica und Vila Real, im achtzehnten Jahrhundert die reichsten und
berühmtesten Städte Brasiliens, sind heute auf keiner Landkarte mehr zu
finden. Die hunderttausend Menschen, die sie bevölkerten zu einer Zeit, da
New York und Rio de Janeiro und Buenos Aires noch unbeträchtliche
Siedlungen waren, sind zerstoben, und selbst die prunkreichen Namen längst
von ihnen gefallen. Vila Rica, im Volksmund später als Vila Pobre verhöhnt,
heißt heute Ouro Preto und ist nichts als ein romantisches Provinzstädtchen
mit ein paar Dutzend holprigen Straßen. An der Stelle von Vila Real steht ein
armes Dorf, das sich bescheiden in den Schatten der neuen Hauptstadt der
Provinz Minas Gerais, des modernen Belo Horizonte drückt. Ihr Glanz und
ihre Größe haben knapp ein Jahrhundert gewährt.
Dieser flüchtige Glanz von Reichtum und Gold, der damals die ganze Welt
überflammte, war aus dem kleinen Flüßchen Rio das Velhas geholt und aus
den Flanken der Berge, die ihn umschließen: es ist ein einmaliges Abenteuer,
von Abenteurern begonnen. Zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts dringt zum
erstenmal in diese unwirkliche, düstere Zone ein Trupp von bandeirantes,
jener verwegenen Gesellen, die von São Paulo aus das ganze Land auf der
Suche nach Sklaven und Erzen durchwandern; tagelang, wochenlang streifen
sie durch die weglosen Schluchten, ohne eine Siedlung, ohne eine
menschliche Spur zu finden. Aber sie lassen nicht ab, denn die Berge funkeln
an den brüchigen Stellen von blankem Metall, und die Erde leuchtet dunkelrot
wie gesättigt von geheimnisvollen Kräften. Endlich winkt ihnen das Glück:
der kleine Fluß Rio das Velhas, der von Ouro Preto nach Mariana in seinem
ungeduldigen Lauf die Kanten der Berge abschürft, rollt in seinem Sande
Gold mit sich, reines, volles Gold, und vor allem viel Gold; man braucht den
Sand nur in hölzernen Schüsseln zu fassen und zu schütteln, und es bleiben
die kostbaren Körner zurück. Nirgends auf Erden liegt im achtzehnten
Jahrhundert das Gold so reich, so flach, so offen zutage als hier im
brasilianischen Bergland. Einer derbandeirantes bringt die erste Beute im
ledernen Säckchen nach Rio de Janeiro – damals zwei Monate entfernt, heute
sechzehn Eisenbahnstunden – ein anderer nach Bahia, und sofort beginnt ein
Sturm in die Wildnis, nur jenem bei der Entdeckung der Goldgruben
Kaliforniens vergleichbar. Die Pflanzer verlassen ihre Zuckerplantagen, die
Soldaten ihre Kasematten, die Priester ihre Kirchen, die Matrosen ihre
Schiffe; auf Booten und Mauleseln und Pferden und zu Fuß drängt eine
riesige Rotte heran und peitscht ihre schwarzen Sklaven mit; bald kommt der
erste, der zweite, der dritte Zuzug aus Portugal, und allmählich sammeln sich
solche Massen, daß eine Hungersnot auszubrechen droht in dieser Einöde
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197