Seite - 128 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
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Spazieren durch die Stadt
Jeder Weg beginnt hier an der Avenida Rio Branco. Sie ist – oder vielmehr,
sie war – der Stolz der Stadt. Vor etwa vierzig Jahren kam der Ehrgeiz über
Rio, es den europäischen Großstädten gleichzutun und einen Boulevard, eine
repräsentative Hauptstraße im Herzen der Stadt zu haben. Und da sie wie alle
Städte des Südens davon träumte, ein Paris zu werden, verlockte das Vorbild
des Boulevard Haussmann, den der große Präfekt mit kühnem, breitem Strich
geometrisch gerade durch das frühere Gewirr verschachtelter alter Gassen
gezogen, zur Nachahmung. Der Plan dieser Prunkavenida aber glaubte schon
verwegen zu sein, wenn er sich das Maß von den europäischen Boulevards
borgte und die Straßenbreite mit dreiunddreißig Metern ansetzte. Die
Brasilianer der älteren Generation, die bodenständigen cariocas, an ihre
engen schattigen kolonialen Durchlässe gewöhnt, schüttelten zwar die Köpfe
und erklärten diese übermäßige Breite als allzu verwegen. Aber der Plan
setzte sich durch. Man stellte an den Eingang der Avenida ein prächtiges und
sehr pariserisches Opernhaus, die Nationalbibliothek, das Museum, das
damalige Luxushotel, um von vornherein die neue Straße als den geistigen
und kulturellen Mittelpunkt zu kennzeichnen, man wagte sogar sechsstöckige
Häuser, die hochmütig über die niederen Dächer der bisherigen Palácios und
Palacetes herabblickten. Die breiten Trottoirs wurden mit schwarzweißem
Mosaik auf das schönste geschmückt, die Fahrbahn asphaltiert, die
Geschäftshäuser und Klubs beeilten sich, die breite schöne Front in der
damals modernsten Architektur zu flankieren. Es wurde in der Tat eine
prächtige Straße, und mit Stolz konnten die Brasilianer sich sagen, daß sie
den berühmten Boulevards Europas würdig an die Seite zu stellen sei.
Aber es erweist sich in Amerika, diesem mit ganz anderer Vehemenz
aufstrebenden Kontinent, immer als Fehler und verhängnisvolle
Bescheidenheit, in europäischen Maßen zu denken und zu rechnen. Zeit und
Raum haben jenseits des Ozeans ein anderes dynamisches Maß. Hier
entwickeln sich alle Dinge geschwinder, um freilich auch rascher zu veralten.
Und so ist durch das tropische Wachstum Rios und den phantastisch sich
entwickelnden Verkehr schon heute die Avenida Rio Branco längst zu eng, zu
schmal geworden, ständig verstopft durch die Prozession der Autos, die nur
im Schritt sich vorwärts bewegen können, donnernd von Lärm, überfüllt von
Menschen und überdies noch rechts und links zurückgepreßt in ihrem
Strombett durch die vorgeschobenen Planken der ständigen Umbauten. Denn
schon scheinen die Prachtbauten von 1910 hier nicht mehr prächtig und
verwegen genug, das Luxushotel von einst ist bereits zum Abbruch verurteilt,
und an seiner Stelle soll ein zweiunddreißig Stock hoher Bau errichtet
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Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197