Seite - 148 - in Brasilien - Ein Land der Zukunft
Bild der Seite - 148 -
Text der Seite - 148 -
Sommer in Rio
Es wird November. Die sogenannte »Saison« von Rio geht zu Ende und die
Freunde, denen man begegnet, haben alle dieselbe Frage: wohin gehen Sie
über den Sommer? Es ist ein Axiom, daß man die Monate, die man bei uns
Winter nennt – Dezember, Januar, Februar und März – in die Berge flüchtet,
oder es ist zum mindesten ein alter Brauch, den Kaiser Pedro II. für die
Gesellschaft eingeführt hat. Im Sommer verlegte er seine Residenz nach
Petrópolis, ihm folgte der Hof und dem Hof die Gesellschaft; alle
Gesandtschaften und Ministerien verlegten ihre Tätigkeit in diese nahe und
kühlere Gartenstadt, die heute dank des Autos eine Art Vorstadt von Rio
geworden ist. Während der Sommerzeit, in den schulfreien Monaten, wohnt
die Familie in einer Villa in Petrópolis, und der Geschäftsmann, der höhere
Beamte steuert abends mit dem Auto hinauf und morgens hinab: es ist keine
Reise mehr.
Es ist keine Reise mehr und eher ein Ausflug zu nennen. Zwanzig oder
dreißig Minuten durch das flache Land, das die Energie der Regierung den
früher fieberbringenden Sümpfen abgewonnen. Dann steigt die breite, blank
zementierte Straße in scharfen Kurven die Höhe empor. Serpentine um
Serpentine schraubt sie sich hoch, allmählich öffnet sich der Ausblick über
das Tal und die Bucht, Kilometer um Kilometer schmettert vorbei und die
Luft, die einen anspringt, wird frischer und kühler. Endlich eine Wendung und
– man ist kaum mehr als anderthalb Stunden gefahren – die Höhe ist erreicht;
kleine gefällige Häuschen, von einem Kanal durchzogen, flankieren die
Straße und man ist in einem Kurörtchen, einem Sommerresidenzchen, das ein
wenig altväterisch anmutet mit seinen roten Brückchen und etwas antiquierten
Villen. Irgendwie, man weiß nicht warum, denkt man an ein deutsches
Provinzstädtchen. Und, siehe da, man hat richtig gefühlt. Hierher hatte vor
vielen Jahrzehnten der Kaiser deutsche Ansiedler kommen lassen, und sie
bauten ihre Häuschen nach heimischer Art; sie gaben ihnen deutsche Namen
und pflanzten in ihre kleinen schmucken Gärtchen wie zu Hause die
Pelargonien. Auch das kaiserliche Palais wirkt wie das eines deutschen
Duodezfürstentums, das durch eine nette Zauberei auf einen brasilianischen
Berg getragen wurde; alles hat ein hübsches, zierliches Format, und erst in
den letzten Jahren haben die neuen Villen den Charakter anspruchsvoller
gemacht. Jetzt drängt sich alles hier ein wenig zusammen, die Menschen und
die Häuser; die Straßen, vormals nur für die schweren, langsamen Karossen
gedacht, schwirren von Automobilen, die Unruhe von Rio rückt allmählich
den Berg herauf. Aber die Lieblichkeit des Ortes wird niemals ernstlich
bedroht werden können, denn die Natur selbst ist hier lieblich; die Berge
148
zurück zum
Buch Brasilien - Ein Land der Zukunft"
Brasilien
Ein Land der Zukunft
- Titel
- Brasilien
- Untertitel
- Ein Land der Zukunft
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1941
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 200
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 5
- Geschichte 14
- Wirtschaft 57
- Blick auf die brasilianische Kultur 94
- Rio de Janeiro 117
- Einfahrt 121
- Das alte Rio 124
- Spazieren durch die Stadt 128
- Die kleinen Straßen 135
- Kunst der Kontraste 138
- Ein paar Dinge, die morgen vielleicht schon entschwunden sind 140
- Gärten, Berge und Inseln 144
- Sommer in Rio 148
- Blick auf São Paulo 152
- Besuch beim Kaffee 160
- Besuch hei den versunkenen Goldstädten 167
- Flug über den Norden 180
- Daten zur Geschichte Brasiliens 197