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Tags haben vielleicht die Soldaten auf der Straße mit ihm gespielt, Soldaten,
denen die Kosaken ihre Säbelhiebe ins Gesicht geschrieben hatten, nachts
mag er oft aufgewacht sein vom zornigen Rollen der Kanonen, die hinzogen
nach Österreich, um die Eisdecke unter der russischen Reiterei bei Austerlitz
zu zerschmettern. Alles Begehren seiner Jugend mußte aufgelöst sein in den
aneifernden Namen, in den Gedanken, in die Vorstellung: Napoleon. Vor dem
großen Garten, der aus Paris hinausführt in die Welt, wuchs ein
Triumphbogen auf, dem die besiegten Städtenamen der halben Welt
eingemeißelt waren, und dieses Gefühl der Herrschaft, wie mußte es
umschlagen in eine ungeheure Enttäuschung, als dann fremde Truppen mit
Musik und wehenden Fahnen durchzogen durch diese stolze Wölbung! Was
außen, in der durchstürmten Welt geschah, wuchs nach innen als Erlebnis.
Früh erlebte er schon die ungeheure Umwälzung der Werte, der geistigen
ebenso wie der materiellen. Er sah die Assignaten, auf denen 100 oder 1000
Francs mit dem Siegel der Republik verheißen waren, als wertlose Papiere im
Winde flattern. Auf dem Goldstück, das durch seine Hand glitt, war bald des
enthaupteten Königs feistes Profil, bald die Jakobinermütze der Freiheit, bald
des Konsuls Römergesicht, bald Napoleon im kaiserlichen Ornat. In einer Zeit
so ungeheurer Umwälzungen, da die Moral, das Geld, das Land, die Gesetze,
die Rangordnungen, alles, was seit Jahrhunderten in feste Grenzen
eingedämmt war, einsickerte oder überschwemmte, in einer Epoche so nie
erlebter Veränderungen mußte ihm früh die Relativität aller Werte bewußt
werden. Ein Wirbel war die Welt um ihn, und wenn der schwindlige Blick
nach Übersicht suchte, nach einem Symbol, nach einem Sternbild über
diesem gebäumten Wogen, so war es in diesem Auf und Nieder der Ereignisse
immer nur der Eine, der Wirkende, von dem diese tausend Erschütterungen
und Schwingungen ausgingen. Und ihn selbst, Napoleon, hatte er noch erlebt.
Er sah ihn zur Parade reiten mit den Geschöpfen seines Willens, mit Rustan,
dem Mamelucken, mit Josef, dem er Spanien geschenkt hatte, mit Murat, dem
er Sizilien zu eigen gegeben, mit Bernadotte, dem Verräter, mit allen, denen er
Kronen gemünzt hatte und Königreiche erobert, die er aufgehoben aus dem
Nichts ihrer Vergangenheit in den Strahl seiner Gegenwart. In einer Sekunde
war in seine Netzhaut sinnfällig und lebendig ein Bild eingestrahlt, das größer
war als alle Beispiele der Geschichte: er hatte den großen Welteroberer
gesehen! Und ist für einen Knaben, einen Welteroberer zu sehen, nicht
gleichviel mit dem Wunsche, selbst einer zu werden? Noch an zwei anderen
Stellen ruhten in diesem Augenblicke zwei Welteroberer aus, in Königsberg,
wo einer die Wirre der Welt sich auflöste in eine Übersicht, und in Weimar,
wo sie ein Dichter nicht minder in ihrer Gänze besaß als Napoleon mit seinen
Armeen. Aber dies war für lange noch unfühlbare Ferne für Balzac. Den
Trieb, immer nur das Ganze zu wollen, nie ein Einzelnes, die ganze Weltfülle
gierig zu erstreben, diesen fieberhaften Ehrgeiz hat vorerst das Beispiel
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131