Seite - 10 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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übersichtliches System zu bringen, wie Linné die Milliarden Pflanzen in eine
enge Übersicht, wie der Chemiker die unzählbaren Zusammensetzungen in
eine Handvoll Elemente auflöst – das ist nun sein Ehrgeiz. Er vereinfacht die
Welt, um sie dann zu beherrschen, er preßt die Bezwungene in den grandiosen
Kerker der „Comédie humaine“. Durch diesen Prozeß der Destillation sind
seine Menschen immer Typen, immer charakteristische Zusammenfassungen
einer Mehrheit, von denen ein unerhörter Kunstwille alles Überflüssige und
Unwesentliche abgeschüttelt hat. Diese geradlinigen Leidenschaften sind die
Stoßkräfte, diese reinen Typen die Schauspieler, diese dekorativ vereinfachte
Umwelt die Kulissen der „Comédie humaine“. Er konzentriert, indem er das
administrative Zentralisationssystem in die Literatur einführt. Wie Napoleon
macht er Frankreich zum Umkreis der Welt, Paris zum Zentrum. Und
innerhalb dieses Kreises, in Paris selbst, zieht er mehrere Zirkel, den Adel, die
Geistlichkeit, die Arbeiter, die Dichter, die Künstler, die Gelehrten. Aus
fünfzig aristokratischen Salons macht er einen einzigen, den der Herzogin von
Cadignan. Aus hundert Bankiers den Baron von Nucingen, aus allen
Wucherern den Gobsec, aus allen Ärzten den Horace Bianchon. Er läßt diese
Menschen enger beieinander wohnen, häufiger sich berühren, vehementer
sich bekämpfen. Wo das Leben tausend Spielarten erzeugt, hat er nur eine. Er
kennt keine Mischtypen. Seine Welt ist ärmer als die Wirklichkeit, aber
intensiver. Denn seine Menschen sind Extrakte, seine Leidenschaften reine
Elemente, seine Tragödien Kondensierungen. Wie Napoleon beginnt er mit
der Eroberung von Paris. Dann faßt er Provinz nach Provinz – jedes
Departement sendet gewissermaßen seinen Sprecher in das Parlament Balzacs
– und dann wirft er wie der siegreiche Konsul Bonaparte seine Truppen über
alle Länder. Er greift aus, sendet seine Menschen an die Fjorde Norwegens, in
die verbrannten, sandigen Ebenen Spaniens, unter den feuerfarbenen Himmel
Ägyptens, an die vereiste Brücke der Beresina, überallhin und noch weiter
greift sein Weltwille wie der seines großen Vorbildners. Und so wie
Napoleon, ausruhend zwischen zwei Feldzügen, den Code civil schuf, gibt
Balzac, ausruhend von der Eroberung der Welt in der „Comédie humaine“,
einen Code moralder Liebe, der Ehe, eine prinzipielle Abhandlung und zieht
über die erdumspannende Linie der großen Werke noch lächelnd die
übermütige Arabeske der „Contes drolatiques“. Vom tiefsten Elend, aus den
Hütten der Bauern wandert er in die Paläste von St. Germain, dringt in die
Gemächer Napoleons, überall reißt er die vierte Wand auf und mit ihr die
Geheimnisse der verschlossenen Räume, er rastet mit den Soldaten in den
Zelten der Bretagne, spielt an der Börse, sieht in die Kulissen des Theaters,
überwacht die Arbeit des Gelehrten, kein Winkel ist in der Welt, wo seine
zauberische Flamme nicht hinleuchtet. Zwei- bis dreitausend Menschen
bilden seine Armee, und tatsächlich: aus dem Boden hat er sie gestampft, aus
seiner flachen Hand ist sie aufgewachsen. Nackt, aus dem Nichts sind sie
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131