Seite - 13 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Gliederungen, Zersetzungen und Kristallisierungen, in der atomhaften
Vereinfachung des Zusammengesetzten schien ihm deutlicher als anderswo
das Bild der sozialen Zusammensetzung gespiegelt zu sein. Daß jede Vielheit
nicht minder auf die Einheit wirkte, wie die Einheit selbst wieder bestimmend
auf die Vielheit, diese seine Auffassung, die er Lamarquismus nannte – und
die Taine später zu Begriffen erstarrt hat –, daß jedes Individuum ein Produkt
sei, geformt von Klima, Milieu, Sitten, Zufall, von all dem, was
schicksalsträchtig an ihm rührt, daß jedes Individuum seine Wesenheit aus
einer Atmosphäre sauge, um selbst wieder eine neue Atmosphäre zu
entstrahlen –, dieses universelle Bedingtsein von In- und Umwelt war ihm
Axiom. Und diesen Abdruck des Organischen im Unorganischen und die
Griffspuren des Lebendigen im Begrifflichen wieder, diese Summierungen
eines momentanen geistigen Besitzes im sozialen Wesen, die Produkte ganzer
Epochen aufzuzeichnen, schien ihm höchste Aufgabe des Künstlers. Alles
fließt ineinander, alle Kräfte sind in Schwebe und keine frei. Ein so
unbegrenzter Relativismus hat jede Kontinuität, selbst die des Charakters
geleugnet. Balzac hat seine Menschen immer an den Ereignissen sich formen
lassen, sich modellieren wie Ton in der Hand des Schicksals. Selbst die
Namen seiner Menschen umspannen einen Wandel und kein Einheitliches.
Durch zwanzig der Bücher Balzacs geht der Baron von Rastignac, Pair von
Frankreich. Man glaubt ihn schon zu kennen, von der Straße her, oder vom
Salon, oder von der Zeitung, diesen rücksichtslosen Arrivierten, dies Prototyp
eines brutalen pariserischen unbarmherzigen Strebers, der aalglatt durch alle
Schlupfwinkel der Gesetze sich durchdrückt und die Moral einer
verkommenen Gesellschaft meisterhaft verkörpert. Aber da ist ein Buch, in
dem lebt auch ein Rastignac, der junge arme Edelmann, den seine Eltern nach
Paris schicken mit vielen Hoffnungen und wenig Geld, ein weicher, sanfter,
bescheidener, sentimentaler Charakter. Und das Buch erzählt, wie er in die
Pension Vauquer gerät, in jenen Hexenkessel von Gestalten, in eine jener
genialen Verkürzungen, wo Balzac in vier schlecht tapezierte Wände die
ganze Lebensvielfalt der Temperamente und Charaktere einschließt, und hier
sieht er die Tragödie des ungekannten König Lear, des Vaters Goriot, sieht,
wie die Flitterprinzessinnen des Faubourg St. Germain gierig den alten Vater
bestehlen, sieht alle Niedertracht der Gesellschaft, gelöst in eine Tragödie.
Und da, wie er endlich dem Sarge des allzu Gütigen folgt, allein mit einem
Hausknecht und einer Magd, wie er in zorniger Stunde Paris schmutziggelb
und trüb wie ein böses Geschwür von den Höhen des Père Lachaise zu seinen
Füßen sieht, da weiß er alle Weisheit des Lebens. In diesem Momente hört er
die Stimme Vautrins, des Sträflings, in seinem Ohr aufklingen, seine Lehre,
daß man Menschen wie Postpferde behandeln müsse, sie vor seinem Wagen
hetzen und dann krepieren lassen am Ziel, in dieser Sekunde wird er der
Baron Rastignac der anderen Bücher, der rücksichtslose, unerbittliche Streber,
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131