Seite - 16 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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aufbewahre für die jähen heftigen Ekstasen, ob in Verbrennung oder
Explosion das Lebensfeuer sich verzehre. Wer rascher lebt, lebt nicht kürzer,
wer einheitlich lebt, nicht minder vielfältig. Für ein Werk, das nur Typen
schildern will, die reinen Elemente auflösen, sind solche Monomanen allein
wichtig. Flaue Menschen interessieren Balzac nicht, nur solche, die etwas
ganz sind, die mit allen Nerven, mit allen Muskeln, mit allen Gedanken an
einer Illusion des Lebens hängen, sei es, an was immer auch, an der Liebe,
der Kunst, dem Geiz, der Hingebung, der Tapferkeit, der Trägheit, der Politik,
der Freundschaft. An irgendeinem beliebigen Symbol, aber an diesem ganz.
Diese hommes à passion, diese Fanatiker einer selbstgeschaffenen Religion,
sehen nicht nach rechts, nicht nach links. Sie sprechen verschiedene Sprachen
untereinander und verstehen sich nicht. Biete dem Sammler eine Frau, die
schönste der Welt – er wird sie nicht bemerken; dem Liebenden eine Karriere
– er wird sie mißachten; dem Geizigen ein anderes als Geld – er wird nicht
aufschauen von seiner Truhe. Läßt er sich aber verlocken, verläßt er die eine
geliebte Leidenschaft um der anderen willen, so ist er verloren. Denn
Muskeln, die man nicht gebraucht, zerfallen, Sehnen, die man jahrelang nicht
gespannt, verknöchern, und wer zeitlebens Virtuose einer einzigen
Leidenschaft war, Athlet eines einzigen Gefühls, ist Stümper und
Schwächling auf jedem anderen Gebiet. Jedes zur Monomanie aufgepeitschte
Gefühl vergewaltigt die anderen, gräbt ihnen das Wasser ab und läßt sie
vertrocknen: aber ihre Reizwerte saugt es in sich. Alle Graduationen und
Peripetien der Liebe, Eifersucht und Trauer, Erschöpfung und Ekstase, sind
bei dem Geizigen in der Sparsucht, beim Sammler in der Sammelwut
gespiegelt, denn jede absolute Vollkommenheit vereinigt die Summe der
Gefühlsmöglichkeiten. Die Intensität der Einseitigkeit hat in ihren Emotionen
die ganze Vielfalt der vernachlässigten Begehrungen. Hier setzen die großen
Tragödien Balzacs ein. Der Geldmensch Nucingen, der Millionen gesammelt
hat, an Klugheit überlegen allen Bankiers des Kaiserreichs, wird ein
läppisches Kind in den Händen einer Dirne, der Dichter, der sich dem
Journalismus hinwirft, wird zerrieben wie ein Korn unter dem Mühlstein. Ein
Traumbild der Welt, ein jedes Symbol ist eifersüchtig wie Jehova und duldet
keine anderen Leidenschaften neben sich. Und von diesen Leidenschaften ist
keine größer und keine geringer, sie haben ebensowenig eine Rangordnung
wie Landschaften oder Träume. Keine ist zu gering. „Warum sollte man nicht
die Tragödie der Dummheit schreiben?“ sagt Balzac, „die der Verschämtheit,
die der Ängstlichkeit, die der Langeweile?“ Auch sie sind bewegende,
treibende Kräfte, auch sie bedeutsam, insofern sie nur genugsam intensiv
sind, selbst die ärmlichste Lebenslinie hat Schwung und Schönheitsgewalt,
sobald sie ungebrochen gerade fortstrebt oder ihr Schicksal ganz umkreist.
Und diese Urkräfte – oder besser, diese tausend Proteusformen der wirklichen
Urkraft – aus der Brust der Menschen zu reißen, sie zu heizen durch den
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131