Seite - 23 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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den kurzen Weg des zurückgelegten Lebens und den dunklen Pfad in das
Zukünftige hinein weiterzuführen vermochten. Ein solcher magischer Blick
ist nach Balzac nur jenem gegeben, der seine Intelligenz nicht in tausend
Richtungen zersplittert hat, sondern – die Idee der Konzentrierung ist bei
Balzac in ewiger Wiederkehr – in sich aufgespart einem einzigen Ziele
entgegenwendet. Die Gabe der „seconde vue“ ist nicht nur die des Zauberers
und Sehers allein; „seconde vue“, spontane visionäre Erkenntnis, dies
unbezweifelbare Merkmal des Genies, haben die Mütter gegenüber ihren
Kindern, Desplein hat sie, der Arzt, der aus der verworrenen Qual eines
Kranken sofort die Ursache seines Leidens und die vermutliche Grenze seiner
Lebensdauer bestimmt, der geniale Feldherr Napoleon, der die Stelle sofort
erkennt, wo er die Brigaden hinschleudern muß, um das Schicksal der
Schlacht zu entscheiden; Marsay, der Verführer, besitzt sie, der die flüchtige
Sekunde aufgreift, in der er eine Frau zu Fall bringen kann, Nucingen, der
Börsenspieler, der den großen Börsencoup im richtigen Momente zur
Explosion bringt; alle diese Astrologen des Himmels der Seele haben ihre
Wissenschaft dank des nach innen dringenden Blicks, der wie durch ein
Perspektiv Horizonte sieht, wo das unbewaffnete Auge nur ein graues Chaos
unterscheidet. Hierin schlummert die Affinität zwischen der Vision des
Dichters und der Deduktion des Gelehrten, dem rapiden, spontanen Begreifen
und dem langsamen, logischen Erkennen. Balzac, dem sein eigener intuitiver
Überblick selbst unbegreiflich werden und der oft erschreckt mit fast irrem
Blick sein Werk überschauen mußte wie ein Unbegreifliches, war gezwungen
zu einer Philosophie des Inkommensurablen, einer Mystik, der der landläufige
Katholizismus eines de Maistre nicht mehr genügte. Und dieses Korn Magie,
das seinem innersten Wesen beigemengt war, diese Unbegreiflichkeit, die
seine Kunst nicht nur Chemie des Lebens sein läßt, sondern Alchimie, ist sein
Grenzwert gegen die Späteren, gegen die Nachahmer, gegen Zola besonders,
der Stein um Stein zusammenraffte, wo Balzac nur den Zauberring drehte,
und schon ein Palast mit tausend Fenstern sich aufbaute. So ungeheuer die
Energie seines Werkes ist, der erste Eindruck bleibt doch immer der von
Zauberei und nicht von Arbeit, nicht der eines Ausborgens vom Leben,
sondern eines Beschenkens und Bereicherns.
Denn Balzac – und dies schwebt wie eine undurchdringliche Wolke von
Geheimnis um seine Gestalt – hat in den Jahren seines Schaffens nicht mehr
studiert und experimentiert, nicht mehr das Leben beobachtet wie etwa Zola,
der sich, ehe er einen Roman schrieb, ein Bordereau für jede einzelne Figur
anlegte, nicht wie Flaubert, der Bibliotheken durchstöberte für ein
fingerschmales Buch. Balzac kam selten wieder zurück in jene Welt, die
außer der seinen lag, er war eingeschlossen in seine Halluzination wie in ein
Gefängnis, angenagelt an den Marterstuhl der Arbeit, und was er mitbrachte,
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131