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Wasserträger, dessen Sehnsucht es ist, das Faß nicht selbst ziehen zu müssen,
sondern ein kleines, kleines Pferd zu haben, der Student und die Näherin, alle
diese fast vegetabilischen Existenzen der Großstadt. Tausend Landschaften
stehen auf, jede ist bereit, hinter seine Schicksale zu treten, sie zu formen, und
alle sind deutlicher in ihm nach einem Augenblick des Schauens, als anderen
nach den Jahren, die sie darin lebten. Alles hat er gewußt, was er einmal
flüchtig mit dem Blick angerührt hat, und – merkwürdiges Paradoxon des
Künstlers – er hat selbst das gewußt, was er gar nicht kannte, er hat die Fjorde
Norwegens und die Wälle von Saragossa aus seinen Träumen wachsen lassen,
und sie waren wie die Wirklichkeit. Ungeheuer ist diese Rapidität der Vision.
Es war, als ob er nackt und klar das erkennen könnte, was die anderen
umhängt und unter tausend Bekleidungen erblickten. Ihm war an allem ein
Zeichen, zu allem ein Schlüssel, daß er die Außenfläche abtun konnte von den
Dingen und sie ihm ihr Inneres zeigten. Die Physiognomien taten sich ihm
auf, alles fiel in seine Sinne wie der Kern aus einer Frucht. Mit einem Ruck
reißt er das Essentielle aus dem Faltenwerk des Unwesentlichen, aber nicht,
daß er es freigräbt, langsam wühlend von Schicht zu Schicht, sondern wie mit
Pulver sprengt er die goldenen Minen des Lebens auf. Und zugleich mit
diesen wirklichen Formen faßt er auch das Unfaßbare, die gasförmig über
ihnen schwebende Atmosphäre von Glück und Unglück, die zwischen
Himmel und Erde schwebenden Erschütterungen, die nahen Explosionen, die
Wetterstürze der Luft. Was den anderen eben nur Umriß ist, was sie sehen,
kalt und ruhig wie unter einer gläsernen Vitrine, das fühlt seine magische
Sensibilität wie in der Hülse des Thermometers als atmosphärischen Zustand.
Dieses ungeheure, unvergleichlich intuitive Wissen ist das Genie Balzacs.
Was man dann noch den Künstler nennt, den Verteiler der Kräfte, den Ordner
und Gestalter, den Zusammenhaltenden und Lösenden, den spürt man nicht so
deutlich bei Balzac. Man wäre versucht zu sagen, er war gar nicht das, was
man Künstler nennt, so sehr war er Genie. „Une telle force n’a pas besoin
d’art.“ Das Wort gilt auch von ihm. Denn wirklich, hier ist eine Kraft, so
grandios und so groß, daß sie wie die freiesten Tiere des Urwaldes der
Zähmung widerstrebt, sie ist schön wie ein Gestrüpp, ein Sturzbach, ein
Gewitter, wie alle jene Dinge, deren ästhetischer Wert einzig in der
Intensität ihres Ausdrucks besteht. Ihre Schönheit bedarf nicht der Symmetrie,
der Dekoration, der nachhelfenden, sorglichen Verteilung, sie wirkt durch die
ungezügelte Vielfalt ihrer Kräfte. Balzac hat seine Romane nie genau
komponiert, er hat sich in ihnen verloren wie in einer Leidenschaft, in den
Schilderungen, im Wort gewühlt wie in Stoffen oder nacktem blühenden
Fleisch. Er reißt Gestalten auf, hebt sie von allen Ständen, Familien, von allen
Provinzen Frankreichs aus, wie Napoleon seine Soldaten, teilt sie in Brigaden,
macht den einen zum Reiter, stellt den anderen zu den Kanonen und den
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131