Seite - 39 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Bewegungen sind keine zufälligen, hinter der ergötzlichen Wirrnis waltet eine
Ordnung, die Fäden flechten sich immer wieder zusammen in einen farbigen
Teppich. Keine der Gestalten, die nur spaziergängerisch vorbeizustreifen
scheinen, geht verloren; alle ergänzen, befördern, befeinden einander, häufen
Licht oder Schatten. Krause, heitere, ernste Verwicklungen treiben in
katzenhaftem Spiel den Knäuel der Handlung hin und her, alle Möglichkeiten
des Gefühls klingen in rascher Skala auf und nieder, alles ist gemengt: Jubel,
Schauer und Übermut; bald funkelt die Träne der Rührung, bald die der losen
Heiterkeit. Gewölk zieht auf, zerreißt, türmt sich aufs neue, aber am Schlusse
strahlt die vom Gewitter reine Luft in wundervoller Sonne. Manche dieser
Romane sind eine Ilias von tausend Einzelkämpfen, die Ilias einer
entgötterten irdischen Welt, manche nur eine friedfertige bescheidene Idylle;
aber alle Romane, die vortrefflichen wie die unlesbaren, haben dies Merkmal
einer verschwenderischen Vielfalt. Und alle haben sie, selbst die wildesten
und melancholischsten, in den Fels der tragischen Landschaft kleine
Lieblichkeiten wie Blumen eingesprengt. Überall blühen diese
unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden und
versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan seiner Bücher, überall
sprudelt die klare Quelle sorgloser Heiterkeit klingend von dem dunkeln
Gestein der schroffen Geschehnisse nieder. Es gibt Kapitel bei Dickens, die
man nur Landschaften in ihrer Wirkung vergleichen kann, so rein sind sie, so
göttlich unberührt von irdischen Trieben, so sonnig blühend in ihrer heiteren
milden Menschlichkeit. Um ihretwillen schon müßte man Dickens lieben,
denn so verschwenderisch sind diese kleinen Künste verstreut in seinem
Werk, daß ihre Fülle zur Größe wird. Wer könnte allein seine Menschen
aufzählen, alle diese krausen, jovialen, gutmütigen, leicht lächerlichen und
immer so amüsanten Menschen? Sie sind aufgefangen mit all ihren Schrullen
und individuellen Eigentümlichkeiten, eingekapselt in die seltsamsten Berufe,
verwickelt in die ergötzlichsten Abenteuer. Und so viele sie auch sind, keiner
ist dem andern ähnlich, sie sind minuziös bis ins kleinste Detail persönlich
herausgearbeitet, nichts ist Guß und Schema an ihnen, alles Sinnlichkeit und
Lebendigkeit, sie alle sind nicht ersonnen, sondern gesehen. Gesehen von
dem ganz unvergleichlichen Blick dieses Dichters.
Dieser Blick ist von einer Präzision sondergleichen, ein wunderbares,
unbeirrbares Instrument. Dickens war ein visuelles Genie. Man mag jedes
Bildnis von ihm, das der Jugend und das (bessere) der Mannesjahre
betrachten: es ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist nicht das
Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder elegisch umdämmert,
nicht weich und nachgiebig oder feurig-visionär. Es ist ein englisches Auge:
kalt, grau, scharfblinkend wie Stahl. Und stählern war es auch wie ein Tresor,
in dem alles unverbrennbar, unverlierbar, gewissermaßen luftdicht
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131