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darum wirken sie meistens75immer nur äußerlich, sinnfällig, sie erzeugen
eine intensive Erinnerung des Auges, eine nur vage des Gefühles. Rufen wir
in uns eine Figur Balzacs oder Dostojewskis beim Namen auf,
den Père Goriot oder Raskolnikow, so antwortet ein Gefühl, die Erinnerung
an eine Hingebung, eine Verzweiflung, ein Chaos der Leidenschaft. Sagen wir
uns Pickwick, so taucht ein Bild auf, ein jovialer Herr mit reichlichem
Embonpoint und goldenen Knöpfen auf der Weste. Hier spüren wir es: an die
Figuren Dickens’ denkt man wie an gemalte Bilder, an die Dostojewskis und
Balzacs wie an Musik. Denn diese schaffen intuitiv, Dickens nur reproduktiv,
jene mit dem geistigen, Dickens mit dem körperlichen Auge. Er faßt die Seele
nicht dort, wo sie geisterhaft, nur von dem siebenfach glühenden Licht der
visionären Beschwörung bezwungen, aus der Nacht des Unbewußten steigt, er
lauert dem unkörperlichen Fluidum auf, dort, wo es einen Niederschlag im
Wirklichen hat, er hascht die tausend Wirkungen des Seelischen auf das
Körperliche, aber dort übersieht er keine. Seine Phantasie ist eigentlich bloß
Blick und reicht darum nur aus für jene Gefühle und Gestalten der mittleren
Sphäre, die im Irdischen wohnen; seine Menschen sind nur plastisch in den
gemäßigten Temperaturen der normalen Gefühle. In den Hitzegraden der
Leidenschaft zerschmelzen sie wie Wachsbilder in Sentimentalität, oder sie
erstarren im Haß und werden brüchig. Dickens gelingen nur geradlinige
Naturen, nicht jene ungleich interessanteren, in denen die hundertfachen
Übergänge vom Guten zum Bösen, vom Gott zum Tier fließend sind. Seine
Menschen sind immer eindeutig, entweder vortrefflich als Helden oder
niederträchtig als Schurken, sie sind prädestinierte Naturen mit einem
Heiligenschein über der Stirne oder dem Brandmal.
Zwischen good und wicked, zwischen dem Gefühlvollen und Gefühllosen
pendelt seine Welt. Darüber hinaus, in die Welt der geheimnisvollen
Zusammenhänge, der mystischen Verkettungen, weiß seine Methode keinen
Pfad. Das Grandiose läßt sich nicht greifen, das Heroische nicht erlernen. Es
ist der Ruhm und die Tragik Dickens’, immer in einer Mitte geblieben zu sein
zwischen Genie und Tradition, dem Unerhörten und dem Banalen: in den
geregelten Bahnen der irdischen Welt, im Lieblichen und im Ergreifenden, im
Behaglichen und Bürgerlichen.
Aber dieser Ruhm genügte ihm nicht: der Idylliker sehnte sich nach Tragik.
Immer wieder hat er zur Tragödie emporgestrebt, und immer kam er nur zum
Melodram. Hier war seine Grenze. Diese Versuche sind unerfreulich: mögen
in England die „Geschichte der beiden Städte“, „Bleak House“ für hohe
Schöpfungen gelten, für unser Gefühl sind sie verloren, weil ihre große Geste
eine erzwungene ist. Die Anstrengung zum Tragischen ist in ihnen wirklich
bewundernswert: in diesen Romanen türmt Dickens Konspirationen, wölbt
große Katastrophen wie Felsblöcke über den Häuptern seiner Helden, er
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131