Seite - 45 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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dumpfen Bezirke solcher Zweckmäßigkeiten hob: seinen seligen und fast
unirdischen Humor.
Diese eine selige, halkyonisch freie Welt, in die der Nebel Englands nicht
niederhängt, ist das Land der Kindheit. Die englische Lüge verschneidet die
Sinnlichkeit in den Menschen und zwingt den Erwachsenen in ihre Gewalt;
die Kinder aber leben noch paradiesisch unbekümmert ihr Fühlen aus, sie sind
noch nicht Engländer, sondern nur kleine helle Menschenblüten, in ihre bunte
Welt schattet noch nicht der englische Nebelrauch der Hypokrisie. Und hier,
wo Dickens frei, unbehindert von seinem englischen Bourgeoisgewissen
schalten durfte, hat er Unsterbliches geleistet. Die Jahre der Kindheit in
seinen Romanen sind einzig schön; nie werden, glaube ich, in der
Weltliteratur diese Gestalten vergehen, diese heiteren und ernsten Episoden
der Frühzeit. Wer wird je die Odyssee der kleinen Nell vergessen können, wie
sie mit ihrem greisen Großvater aus dem Rauch und Düster der großen Städte
hinauszieht ins erwachende Grün der Felder, harmlos und sanft, dies
engelhafte Lächeln selig über alle Fährlichkeiten und Gefahren hinrettend bis
ins Verscheiden. Das ist rührend in einem Sinne, der über alle Sentimentalität
hinausreicht zum echtesten, lebendigsten Menschengefühl. Da ist Traddles,
der fette Junge in seinen geblähten Pumphosen, der den Schmerz über die
erhaltenen Prügel im Zeichnen von Skeletten vergißt, Kit, der Treueste der
Treuen, der kleine Nickelby und dann dieser eine, der immer wiederkehrt,
dieser hübsche, „sehr kleine und nicht eben zu freundlich behandelte Junge“,
der niemand anderes ist als Charles Dickens, der Dichter, der seine eigene
Kinderlust, sein eigenes Kinderleid wie kein zweiter unsterblich gemacht hat.
Immer und immer wieder hat er von diesem gedemütigten, verlassenen,
verschreckten, träumerischen Knaben erzählt, den die Eltern verwaisen
ließen; und hier ist sein Pathos wirklich tränennah geworden, seine sonore
Stimme voll und tönend wie Glockenklang. Unvergeßlich ist dieser
Kinderreigen in Dickens’ Romanen. Hier durchdringt sich Lachen und
Weinen, Erhabenes und Lächerliches zu einem einzigen Regenbogenglanz;
das Sentimentale und das Sublime, das Tragische und das Komische,
Wahrheit und Dichtung versöhnen sich in ein Neues und
Nochniedagewesenes. Hier überwindet er das Englische, das Irdische, hier ist
Dickens ohne Einschränkung groß und unvergleichlich. Wollte man ihm ein
Denkmal setzen, so müßte marmorn dieser Kinderreigen seine eherne Gestalt
umringen als den Beschützer, den Vater und Bruder. Denn sie hat er wahrhaft
als die reinste Form menschlichen Wesens geliebt. Wollte er Menschen
sympathisch machen, so ließ er sie kindlich sein. Um der Kinder willen hat er
die sogar geliebt, die schon nicht mehr kindlich, sondern kindisch waren, die
Schwachsinnigen und Geistesgestörten. In allen seinen Romanen ist einer
dieser sanften Irren, deren arme verlorene Sinne weit oben wie weiße Vögel
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131