Seite - 46 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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wandern über der Welt der Sorgen und Klagen, denen das Leben nicht ein
Problem, eine Mühe und Aufgabe ist, sondern nur ein seliges, ganz
unverständliches, aber schönes Spiel. Es ist rührend zu sehen, wie er diese
Menschen schildert. Er faßt sie sorgsam an wie Kranke, legt viel Güte um ihr
Haupt wie einen Heiligenschein. Selige sind sie ihm, weil sie ewig im
Paradies der Kindheit geblieben sind. Denn die Kindheit ist das Paradies in
Dickens’ Werken. Wenn ich einen Roman von Dickens lese, habe ich immer
eine wehmütige Angst, wenn die Kinder heranwachsen; denn ich weiß, nun
geht das Süßeste, das Unwiederbringliche verloren, nun mischt sich bald das
Poetische mit dem Konventionellen, die reine Wahrheit mit der englischen
Lüge. Und er selbst scheint dieses Gefühl im Innersten zu teilen. Denn nur
ungern gibt er seine Lieblingshelden an das Leben. Er begleitet sie nie bis ins
Alter hinein, wo sie banal werden, Krämer und Kärrner des Lebens; er nimmt
Abschied von ihnen, wenn er sie emporgeführt hat bis an die Kirchentür der
Ehe, durch alle Fährnisse in den spiegelglatten Hafen der bequemen Existenz.
Und das eine Kind, das ihm das liebste war in der bunten Reihe, die kleine
Nell, in der er die Erinnerung an eine ihm sehr teure Frühverstorbene
verewigt hatte, sie ließ er gar nicht in die rauhe Welt der Enttäuschungen, die
Welt der Lüge. Sie behielt er für immer im Paradies der Kindheit, schloß ihr
vorzeitig die blauen sanften Augen, ließ sie ahnungslos übergleiten von der
Helle der Frühzeit in die Dunkelheit des Todes. Sie war ihm zu lieb für die
wirkliche Welt.
Denn diese Welt ist bei Dickens, ich sagte es ja schon, eine bürgerlich
bescheidene, ein müdes, sattes England, ein enger Ausschnitt der ungeheuren
Möglichkeiten des Lebens. Eine solche arme Welt konnte nur reich werden
durch ein großes Gefühl. Balzac hat den Bourgeois gewaltig gemacht durch
seinen Haß, Dostojewski durch seine Heilandsliebe. Und auch Dickens, der
Künstler, erlöst diese Menschen von ihrer lastenden Erdschwere: durch seinen
Humor. Er betrachtet seine kleinbürgerliche Welt nicht mit objektiver
Wichtigkeit, er stimmt nicht jenen Hymnus der braven Leute, der
alleinseligmachenden Tüchtigkeit und Nüchternheit an, der jetzt die meisten
unserer deutschen Heimatkunstromane so widerlich macht. Sondern er
zwinkert seinen Leuten gutmütig und doch lustig zu, er macht sie wie
Gottfried Keller und Wilhelm Raabe ein ganz klein wenig lächerlich in ihren
liliputanischen Sorgen. Aber lächerlich in einem freundlichen, gutmütigen
Sinne, so daß man sie für alle Schnurren und Skurrilitäten nur noch lieber hat.
Wie ein Sonnenblick liegt der Humor über seinen Büchern, macht ihre
bescheidene Landschaft plötzlich heiter und unendlich lieblich, voll von
tausend entzückenden Wundern; an dieser guten wärmenden Flamme wird
alles lebendiger und wahrscheinlicher, selbst die falschen Tränen flimmern
wie Diamanten, die kleinen Leidenschaften flammen wie wirklicher Brand.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131