Seite - 52 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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dem Werke Dostojewskis in eine brennende Liebe zu verwandeln, nur der
innerste Einblick in seine Eigenheit das Tiefbrüderliche, das Allmenschliche
dieses russischen Menschen uns klarzutun. Aber wie weit und wie
labyrinthisch ist dieser Niederstieg bis zum innersten Herzen des Gewaltigen;
machtvoll in seiner Weite, schreckhaft durch seine Ferne, wird dies einzige
Werk in gleichem Maße geheimnisvoller, als wir von seiner unendlichen
Weite in seine unendliche Tiefe zu dringen suchen. Denn überall ist es mit
Geheimnis getränkt. Von jeder seiner Gestalten führt ein Schacht hinab in die
dämonischen Abgründe des Irdischen, jeder Aufschwung ins Geistige rührt
mit seiner Schwinge bis an Gottes Antlitz. Hinter jeder Wand seines Werkes,
jedem Antlitz seiner Menschen, jeder Falte seiner Verhüllungen liegt die
ewige Nacht und glänzt das ewige Licht: denn Dostojewski ist durch
Lebensbestimmung und Schicksalsgestaltung allen Mysterien des Seins
restlos verschwistert. Zwischen Tod und Wahnsinn, Traum und brennend
klarer Wirklichkeit steht seine Welt. Überall grenzt sein persönliches Problem
an ein unlösbares der Menschheit, jede einzelne belichtete Fläche spiegelt
Unendlichkeit. Als Mensch, als Dichter, als Russe, als Politiker, als Prophet:
überall strahlt sein Wesen von ewigem Sinn. Kein Weg führt an sein Ende,
keine Frage bis in den untersten Abgrund seines Herzens. Nur Begeisterung
darf ihm nahen, und auch sie nur demütig in der Beschämung, geringer zu
sein als seine eigene liebende Ehrfurcht vor dem Mysterium des Menschen.
Er selbst, Dostojewski, hat niemals die Hand gerührt, um uns an sich
heranzuhelfen. Die anderen Baumeister des Gewaltigen in unserer Zeit
offenbarten ihren Willen. Wagner legte neben sein Werk die programmatische
Erläuterung, die polemische Verteidigung, Tolstoi riß alle Türen seines
täglichen Lebens auf, jeder Neugier Zutritt, jeder Frage Rechenschaft zu
geben. Er aber, Dostojewski, verriet seine Absicht nie anders als im
vollendeten Werk, die Pläne verbrannte er in der Glut der Schöpfung.
Schweigsam und scheu war er ein Leben lang, kaum das Äußerliche, das
Körperliche seiner Existenz ist zwingend bezeugt. Freunde besaß er nur als
Jüngling, der Mann war einsam: wie Verminderung seiner Liebe zur ganzen
Menschheit schien es ihm, einzelnen sich hinzugeben. Auch seine Briefe
verraten nur Notdurft der Existenz, Qual des gefolterten Körpers, alle haben
sie verschlossene Lippen, so sehr sie Klage und Notruf sind. Viele
Jahre, seine ganze Kindheit sind von Dunkel umschattet, und schon heute ist
er, dessen Blick manche in unserer Zeit noch brennen sahen, menschlich
etwas ganz Fernes und Unsinnliches geworden, eine Legende, ein Heros und
ein Heiliger. Jenes Zwielicht von Wahrheit und Ahnung, das die erhabenen
Lebensbilder Homers, Dantes und Shakespeares umwittert, entirdischt uns
auch sein Antlitz. Nicht aus Dokumenten, sondern einzig aus wissender Liebe
läßt sich sein Schicksal gestalten.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131