Seite - 57 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Empörung und seine unaufhörliche Hoffnung nur mehr gewonnen sei. Es ist,
als hätte sich diese Zeit lauer Menschen gerade diesen einen aufgespart, um
zu zeigen, welche titanischen Maße in Lust und Qual auch unserer Welt noch
möglich seien, und er, Dostojewski, scheint dumpf den gewaltigen Willen
über sich zu spüren. Denn niemals wehrt er sich gegen sein Schicksal,
niemals hebt er die Faust. Der Körper, der wunde, bäumt sich konvulsivisch
in Zuckungen empor, aus seinen Briefen bricht manchmal wie Blutsturz ein
heißer Schrei, aber der Geist, der Glaube, zwingt die Revolte nieder. Der
mystisch Wissende in Dostojewski spürt das Heilige dieser Hand, den
tragisch fruchtbaren Sinn seines Schicksals. Aus seinem Leid wird Liebe zum
Leiden, und mit der wissenden Glut seiner Qual umflammt er seine Zeit, seine
Welt.
Dreimal schwingt ihn das Leben empor, dreimal reißt es ihn nieder. Früh
schon atzt es ihn mit der süßen Speise des Ruhms: sein erstes Buch schenkt
ihm einen Namen; aber rasch faßt ihn die harte Kralle und schleudert ihn
wieder zurück ins Namenlose: ins Zuchthaus, in die Katorga, nach Sibirien.
Wieder taucht er, nur noch stärker und mutiger, empor: seine Memoiren aus
dem Totenhause reißen Rußland in einen Taumel. Der Zar selbst netzt das
Buch mit seinen Tränen, die russische Jugend steht in Flammen für ihn. Er
gründet eine Zeitschrift, seine Stimme tönt zum ganzen Volke, die ersten
Romane entstehen. Da bricht im Wettersturz seine materielle Existenz
zusammen, Schulden und Sorgen peitschen ihn aus dem Land, Krankheit
beißt sich in sein Fleisch, ein Nomade, irrt er durch ganz Europa, vergessen
von seiner Nation. Aber zum drittenmal, nach Jahren der Arbeit und
Entbehrung, taucht er aus den grauen Gewässern namenloser Not: die Rede
zu Puschkins Gedächtnis bezeugt ihn als den ersten Dichter, den Propheten
seines Landes. Unauslöschlich ist nun sein Ruhm. Aber gerade jetzt schlägt
ihn die eiserne Hand nieder, und die verzückte Begeisterung seines ganzen
Volkes schäumt ohnmächtig gegen einen Sarg. Das Schicksal bedarf seiner
nicht mehr, der grausam weise Wille hat alles erreicht, aus seiner Existenz das
Höchste gewonnen an geistiger Frucht: achtlos wirft es nun die leere Hülse
des Körpers hin.
Durch diese sinnvolle Grausamkeit wird Dostojewskis Leben zum
Kunstwerk, seine Biographie zur Tragödie. Und in wundervoller Symbolik
nimmt sein künstlerisches Werk die typische Form des eigenen Schicksals an.
Es gibt da geheimnisvolle Identitäten, mystische Zusammenhänge,
wunderbare Spiegelungen, die nicht zu deuten und zu erklären sind. Schon
der Anbeginn seines Lebens ist Symbol: Fedor Michailowitsch Dostojewski
wird im Armenhaus geboren. Mit der ersten Stunde ist ihm so schon die Stelle
seiner Existenz angewiesen, irgendwo im Abseits, im Verachteten, nahe dem
Bodensatz des Lebens und doch mitten im menschlichen Schicksal,
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131