Seite - 58 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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nachbarlich von Leiden, Schmerz und Tod. Niemals bis zum letzten Tage (er
starb in einem Arbeiterviertel, in einer Winkelwohnung des vierten Stocks) ist
er dieser Umgürtung entronnen, alle die sechsundfünfzig schweren Jahre
seines Lebens bleibt er mit Elend, Armut, Krankheit und Entbehrung im
Armenhaus des Lebens. Sein Vater, Militärarzt wie der Schillers, ist adliger
Abstammung, seine Mutter aus Bauernblut: beide Quellen des russischen
Volkstums strömen so befruchtend in seine Existenz zusammen,
strenggläubige Erziehung wendet schon früh seine Sinnlichkeit zur Ekstase.
Dort im Moskauer Armenhaus, in einem engen Verschlag, den er mit seinem
Bruder teilt, hat er die ersten Jahre seines Lebens verbracht. Die ersten Jahre:
man wagt nicht zu sagen: seine Kindheit, denn dieser Begriff ist irgendwo aus
seinem Leben verschollen. Niemals hat er von ihr gesprochen, und
Dostojewskis Schweigen war immer Scham oder stolze Angst vor fremdem
Mitleid. Ein grauer leerer Fleck ist dort in seiner Biographie, wo sonst bei
Dichtern bunte Bilder lächelnd aufsteigen, zärtliche Erinnerungen und ein
süßes Bedauern. Und doch meint man ihn zu kennen, blickt man tiefer in die
brennenden Augen der Kindergestalten, die er schuf. Wie Koljä muß er
gewesen sein, frühreif, phantasievoll bis zur Halluzination, voll jener
flackernden, unsicheren Glut, etwas Großes zu werden, voll jenes
gewaltsamen und knabenhaften Fanatismus, über sich selbst hinauszuwachsen
und „für die ganze Menschheit zu leiden“. Wie die kleine Njetoscha
Neswanowa muß er kelchvoll gewesen sein mit Liebe und zugleich der
hysterischen Angst, sie zu verraten. Und wie jener Iljutschka, der Sohn des
betrunkenen Hauptmanns, voll Scham über häusliche Kläglichkeiten und den
Jammer der Entbehrungen, aber doch immer bereit, seine Nächsten vor der
Welt zu verteidigen.
Wie er dann, ein Jüngling, aus dieser finsteren Welt vortritt, ist die Kindheit
schon weggelöscht. In die ewige Freistatt aller Unbefriedigten, das Asyl der
Vernachlässigten ist er geflohen, in die bunte und gefährliche Welt der
Bücher. Er hat unendlich viel damals mit seinem Bruder gemeinsam gelesen,
Tag um Tag und Nacht für Nacht – schon damals trieb er, der Unersättliche,
jede Neigung bis zum Laster empor –, und diese phantastische Welt entfernt
ihn noch mehr von der Wirklichkeit. Voll stärkster Begeisterung zur
Menschheit ist er doch bis ins Krankhafte menschenscheu und verschlossen,
Glut und Eis zugleich, ein Fanatiker gefährlichster Einsamkeit. Seine
Leidenschaft tappt wirr umher, geht in diesen „Kellerjahren“ alle dunklen
Wege der Ausschweifung, aber immer einsam mit Ekel in aller Lust,
Schuldgefühl bei jedem Glück und immer mit verbissenen Lippen. Aus
Geldnot, nur um der paar Rubel willen, geht er zum Militär: auch dort findet
er keinen Freund. Ein paar dumpfe Jünglingsjahre kommen. Wie die Helden
aller seiner Bücher lebt er in einem Winkel ein troglodytisches Dasein,
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131