Seite - 59 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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träumend, sinnend, mit allen geheimen Lastern des Denkens und der Sinne.
Sein Ehrgeiz weiß noch keinen Weg, er lauscht auf sich selbst und bebrütet
seine Kraft. Er spürt sie mit Wollust und Grauen tief unten gären, er liebt sie
und fürchtet sie, er wagt nicht, sich zu rühren, um dies dumpfe Werden nicht
zu zerstören. Ein paar Jahre verharrt er in diesem schwarzen, formlosen
Puppenstand von Einsamkeit und Schweigen, Hypochondrie fällt ihn an, eine
mystische Angst zu sterben, ein Grauen oft vor der Welt, oft vor sich selbst,
ein urmächtiger Schauer vor dem Chaos in der eigenen Brust. In den Nächten
übersetzt er, um seinen verwirrten Finanzen aufzuhelfen (sein Geld zerfloß,
typisch genug, in den gegensätzlichen Neigungen, in Almosen und
Ausschweifungen), Balzacs Eugenie Grandet und Schillers Don Carlos. Aus
dem trüben Dunst dieser Tage ballen sich langsam eigene Formen, und
endlich reift aus diesem vernebelten traumhaften Zustand von Angst und
Ekstase sein erstes dichterisches Werk, der kleine Roman „Arme Leute“.
1844, mit vierundzwanzig Jahren, hat er diese meisterhafte Menschenstudie
geschrieben, er, der Einsamste, „mit leidenschaftlicher Glut, ja fast unter
Tränen“. Seine tiefste Demütigung, die Armut, hat es gezeugt, seine höchste
Gewalt, die Liebe zum Leid, das unendliche Mitleiden es gesegnet.
Mißtrauisch betrachtet er die beschriebenen Blätter. Er ahnt darin eine Frage
an das Schicksal, die Entscheidung, und nur mühsam entschließt er sich,
Nekrasoff, dem Dichter, das Manuskript zur Prüfung anzuvertrauen. Zwei
Tage vergehen ohne Antwort. Einsam grüblerisch sitzt er nachts zu Hause,
arbeitet, bis die Lampe verqualmt. Plötzlich um vier Uhr morgens wird heftig
an der Klingel gerissen, und Dostojewski, dem erstaunt Öffnenden, stürzt
Nekrasoff in die Arme, umhalst, küßt ihn und jubelt ihm zu. Er und ein
Freund hatten gemeinsam das Manuskript gelesen, die ganze Nacht gehorcht,
gejubelt und geweint, und am Ende hielt es beide nicht: sie mußten ihn
umarmen. Es ist Dostojewskis erste Lebenssekunde, diese Klingel nachts, die
ihn zum Ruhm ruft. Bis in den hellen Morgen tauschen die Freunde Glück
und Ekstase in heißen Worten. Dann eilt Nekrasoff zu Bjelinski, dem
allmächtigen Kritiker Rußlands. „Ein neuer Gogol ist erstanden“, ruft er
schon an der Türe, das Manuskript wie eine Fahne schwingend. „Bei euch
wachsen die Gogols wie die Pilze“, brummt der Mißtrauische, durch so viel
Begeisterung verärgert. Aber als Dostojewski ihn am nächsten Tag besucht,
ist er verwandelt. „Ja, begreifen Sie denn selbst, was Sie da geschaffen
haben“, schreit er voll Erregung den verwirrten jungen Menschen an. Grauen
überfällt Dostojewski, ein süßer Schauer vor diesem neuen plötzlichen Ruhm.
Wie im Traum geht er die Treppe hinab, an der Straßenecke bleibt er
taumelnd stehen. Zum erstenmal fühlt er und wagt doch nicht, es zu glauben,
daß all dies Dunkle und Gefährliche, das ihm das Herz auftrieb, ein
Gewaltiges ist und vielleicht das „Große“, von dem seine Kindheit wirr
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131