Seite - 60 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
Bild der Seite - 60 -
Text der Seite - 60 -
geträumt, die Unsterblichkeit, das Leiden für die ganze Welt. Erhebung und
Zerknirschung, Stolz und Demut schwanken wirr durch seine Brust, er weiß
nicht, welcher Stimme er glauben soll. Trunken taumelt er über die Straße,
und in seine Tränen mischen sich Glück und Schmerz.
So melodramatisch geschieht Dostojewskis Entdeckung zum Dichter. Auch
hier ahmt die Form seines Lebens die seiner Werke geheimnisvoll nach. Hier
wie dort haben die rohen Konturen etwas von der banalen Romantik eines
Schauerromans, die Schicksalsschläge etwas Kindlich-Primitives, und nur die
innere Größe und Wahrheit reißt sie empor zum Grandiosen. In Dostojewskis
Leben ist oft der Ansatz Melodram, aber immer wird es zur Tragödie. Es ist
ganz auf Spannung gestellt: in einzelne Sekunden, ohne Übergang, sind die
Entscheidungen komprimiert, mit zehn oder zwanzig solcher Sekunden der
Ekstase oder des Niedersturzes sein ganzes Schicksal fixiert. Epileptische
Ausbrüche des Lebens – eine Sekunde Ekstase und ohnmächtiger
Zusammenbruch – könnte man sie nennen. Hinter jeder Ekstase steht schon
drohend die graue Dämmerung des erschlaffenden Gefühls, und aus langem
Gewölk ballt sich behutsam der neue mörderische Lebensblitz. Jeder
Aufschwung ist bezahlt durch Niedersturz und diese eine Sekunde der
Begnadung mit vielen hoffnungslosen Stunden des Robots und der
Verzweiflung. Der Ruhm, dieser funkelnde Reif, den ihm Bjelinski in jener
Stunde aufs Haupt drückt, ist auch gleichzeitig schon der erste Ring einer
Fußkette, an der Dostojewski klirrend sein Leben lang die schwere Kugel der
Arbeit schleppt. Die „Hellen Nächte“, sein erstes Buch, bleibt auch das letzte,
das er als freier Mann einzig um der schöpferischen Freude willen schuf.
Dichten besagt für ihn von nun ab auch: erwerben, zurückerstatten, abzahlen,
denn jedes Werk, das er seither beginnt, ist vor der ersten Zeile schon mit
Vorschuß verpfändet, das noch ungeborene Kind in die Sklaverei des
Gewerbes verkauft. Für immer ist er jetzt in das Bagno der Literatur
gemauert, ein Leben lang gellen die verzweifelten Schreie des Eingesperrten
nach Freiheit, aber erst der Tod bricht seine Ketten. Noch ahnt der Beginner
nicht die Qual in der ersten Lust. Ein paar Novellen sind rasch vollendet, und
schon plant er einen neuen Roman.
Da hebt das Schicksal warnend den Finger. Er will nicht, sein wachsamer
Dämon, daß ihm das Leben zu leicht werde. Und damit er es erkennen lerne
in allen seinen Tiefen, sendet ihm der Gott, der ihn liebt, seine Prüfung.
Wieder wie damals in der Nacht gellt die Klingel, Dostojewski öffnet
erstaunt, aber diesmal ists nicht die Stimme des Lebens, ein jubelnder Freund,
Botschaft des Ruhms, sondern Ruf des Todes. Offiziere und Kosaken dringen
in sein Zimmer, der Aufgestörte wird verhaftet, seine Papiere versiegelt. Vier
Monate schmachtet er in einer Zelle der Sankt-Pauls-Festung, ohne das
60
Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131