Seite - 62 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Seine „Erinnerungen aus dem Totenhause“, diese unvergängliche Schilderung
einer Sträflingszeit, reißen Rußland aus der Lethargie gleichgültigen
Miterlebens. Mit Grauen entdeckt die ganze Nation, daß ganz atemnah unter
der flachen Schicht ihrer ruhigen Welt eine andere waltet, ein Purgatorium
aller Qualen. Bis in den Kreml empor schlägt die Flamme der Anklage, der
Zar schluchzt über dem Buche, von tausend Lippen klingt Dostojewskis
Name. In einem einzigen Jahr ist sein Ruhm wieder erbaut, höher und
dauerhafter als je. Gemeinsam mit seinem Bruder gründet der Auferstandene
eine Zeitschrift, die er selbst fast allein schreibt, dem Dichter gesellt sich der
Prediger, der Politiker, der „Praeceptor Russiae“. Stürmisch tönt der
Widerhall, die Zeitschrift hat weiteste Verbreitung, ein Roman wird vollendet,
heimtückisch, mit vielen blinzelnden Blicken lockt ihn das Glück.
Dostojewskis Schicksal scheint für immer gesichert.
Aber noch einmal sagt der dunkle Wille, der über seinem Leben waltet: Es
ist zu früh. Denn eine irdische Qual ist ihm noch fremd, die Marter des Exils
und die fressende Angst der täglichen, erbärmlichen Nahrungssorgen. Sibirien
und die Katorga, die grauenhafteste Verzerrung Rußlands, sie war immerhin
noch Heimat gewesen, nun soll er noch die Sehnsucht des Nomaden nach
dem Zelte kennen lernen um der urmächtigen Liebe zum eigenen Volk willen.
Noch einmal muß er zurück ins Namenlose, noch tiefer hinab in das Dunkel,
ehe er der Dichter, der Herold seiner Nation sein darf. Wieder zuckt ein Blitz
nieder, eine Sekunde der Vernichtung: die Zeitschrift wird verboten. Wieder
ist es ein Mißverständnis und gleich mörderisch wie das erste. Und nun fällt,
Wetterschlag auf Wetterschlag, das Grauen mitten in sein Leben. Seine Frau
stirbt, kurz nach ihr sein Bruder und gleichzeitig sein bester Freund und
Helfer. Zweier Familien Schulden hängen sich bleiern an ihn und krümmen
sein Rückgrat unter unerträglicher Last. Noch wehrt er sich verzweifelt,
arbeitet Tag und Nacht wie im Fieber, schreibt, redigiert, druckt selbst, nur
um Geld zu ersparen, die Ehre, die Existenz zu retten, aber das Schicksal ist
stärker als er. Wie ein Verbrecher flüchtet er vor seinen Gläubigern eines
Nachts hinaus in die Welt.
Nun beginnt jene jahrelange ziellose Wanderung durch das europäische
Exil, jene grauenhafte Abschnürung von Rußland, dem Blutquell seines
Lebens, die ärger seine Seele beengte als die Pfähle der Katorga. Furchtbar ist
es auszudenken, wie der größte russische Dichter, der Genius seiner
Generation, der Bote einer Unendlichkeit, mittellos, heimatlos, ziellos von
Land zu Land irrt. Mit Mühe findet er Herbergen in kleinen niederen
Zimmern, die der Dunst der Armut füllt, der Dämon der Epilepsie krallt sich
an seine Nerven, Schulden, Wechsel, Verpflichtungen peitschen ihn von
Arbeit zu Arbeit, Verlegenheit und Scham jagt ihn von Stadt zu Stadt. Blinkt
ein Strahl Glück in sein Leben, so schiebt das Schicksal sogleich neue dunkle
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131