Seite - 64 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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den „Spieler“, diese monumentalen Werke des neunzehnten Jahrhunderts,
diese universellen Gestaltungen unserer ganzen seelischen Welt. Die Arbeit
ist seine Rettung und seine Qual. In ihr lebt er in Rußland, in der Heimat. In
der Ruhe schmachtet er in Europa, in der Katorga. Immer tiefer stürzt er sich
darum in seine Werke hinein. Sie sind das Elixier, das ihn trunken macht, sie
sind das Spiel, das seine Nerven, die gepeinigten, zu höchster Lust anspannt.
Und zwischendurch zählt er, wie einst die Pfähle des Zuchthauses, gierig die
Tage: Heimkehren können als Bettler, aber nur heimkehren! Rußland,
Rußland, Rußland ist der ewige Schrei seiner Not. Aber noch darf er nicht
zurück, noch muß er der Namenlose bleiben um des Werkes willen, der
Märtyrer all dieser fremden Straßen, der einsame Dulder ohne Schrei und
Klage. Noch muß er beim Gewürm des Lebens wohnen, ehe er aufsteigt in die
große Herrlichkeit des ewigen Ruhms. Schon ist sein Körper ausgehöhlt von
den Entbehrungen, immer häufiger schmettern die Keulenschläge der
Krankheit auf sein Gehirn, daß er tagelang betäubt liegen bleibt, mit
verdunkelten Sinnen, um sich mit erster Kraft taumelnd wieder an den
Schreibtisch zu schleppen. Fünfzig Jahre ist Dostojewski alt: aber er hat die
Qual von Jahrtausenden erlebt.
Da sagt endlich, im letzten, drängendsten Augenblick sein Schicksal: Es ist
genug. Gott wendet Hiob wieder sein Antlitz zu: Mit zweiundfünfzig Jahren
darf Dostojewski wieder zurück nach Rußland. Seine Bücher haben für ihn
geworben, Turgenjeff, Tolstoi sind verschattet. Rußland blickt nur mehr auf
ihn. Das „Tagebuch eines Schriftstellers“ macht ihn zum Herold seines
Volkes, und mit letzter Kraft und höchster Kunst vollendet er sein Testament
an die Zukunft der Nation: „Die Karamasoff“. Und nun entschleiert sein
Schicksal endgültig ihm den Sinn und schenkt dem Geprüften eine Sekunde
höchsten Glücks, die ihm weisen soll, daß der Same seines Lebens in
unendlicher Saat aufgegangen ist. Endlich ist in einem Augenblick
Dostojewskis sein Triumph so zusammengedrängt wie einst seine Qual, einen
Blitz schickt ihm sein Gott, aber diesmal nicht einen, der ihn niederschlägt,
sondern einen, der ihn wie seine Propheten mit feurigem Wagen ins Ewige
entrückt. Zum hundertsten Geburtstag Puschkins sind die großen Dichter
Rußlands entboten, die Festrede zu halten. Turgenjeff, der Westler, der
Dichter, der ein Leben lang ihm den Ruhm usurpierte, hat den Vorrang und
spricht unter lauer und freundlicher Zustimmung. Am nächsten Tag ist das
Wort Dostojewski gegeben, und er faßt es in dämonischer Trunkenheit wie
einen Donnerkeil. Mit Flammen der Ekstase, die aus seiner leisen, heiseren
Stimme plötzlich wie ein Gewitter bricht, verkündet er die heilige Mission der
russischen Allversöhnung, wie hingemäht stürzen die Zuhörer an seine Knie.
Der Saal erbebt unter der Explosion des Jubels, Frauen küssen ihm die Hände,
ein Student bricht ohnmächtig vor ihm zusammen, alle anderen Redner
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131