Seite - 65 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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verzichten auf das Wort. Ins Unendliche wächst die Begeisterung und feurig
entbrennt die Glorie über dem Haupt mit der Dornenkrone.
Dies wollte sein Schicksal noch: in einer glühenden Minute die Erfüllung
seiner Mission, den Triumph des Werkes zeigen. Dann wirft es – die reine
Frucht ist gerettet – die verdorrte Hülse seines Körpers hin. Am 10. Februar
1881 stirbt Dostojewski. Ein Schauer geht durch Rußland. Ein Augenblick
wortloser Trauer. Aber dann flutets heran, aus den fernsten Städten reisen
gleichzeitig und doch ohne Vereinbarung Deputationen, ihm die letzte Ehre zu
erweisen. Aus allen Winkeln der tausendhäuserigen Stadt schäumt jetzt – zu
spät! zu spät! – die ekstatische Liebe der Menge heran, alles will den Toten
sehen, den sie ein Leben lang vergessen. Die Schmiedestraße, in der er
aufgebahrt ist, braust schwarz von Menschen, finstere Massen schwemmen in
schauerndem Schweigen die Stiegen des Arbeiterhauses empor und füllen die
engen Räume bis hart an den Sarg. Nach ein paar Stunden ist der
Blumenschmuck verschwunden, unter den man ihn gebettet, weil hundert
Hände sich einzelne Blüten als kostbare Reliquie mitnehmen. So stickig wird
die Luft des engen Raumes, daß die Kerzen keine Nahrung mehr haben und
verlöschen. Immer drängender fluten die Massen heran, Welle auf Welle
gegen den Toten. Von ihrem Ansturm schwankt der Sarg und will hinstürzen:
mit den Händen müssen ihn die Witwe, die erschreckten Kinder aufrecht
halten. Der Polizeipräsident will das öffentliche Leichenbegängnis verbieten,
bei dem die Studenten die Ketten des Sträflings hinter seinem Sarge zu tragen
planen, aber er wagt es schließlich nicht gegen eine Begeisterung, die sonst
mit Waffen sich die Teilnahme erzwungen hätte. Und bei dem Leichenzuge
wird plötzlich Dostojewskis heiliger Traum für eine Stunde zum Geschehnis:
das einige Rußland. Wie in seinem Werk durch das bruderselige Gefühl alle
Klassen und Stände Rußlands, so sind die Hunderttausende hinter dem Sarg
durch ihren Schmerz eine einzige Masse; junge Prinzen, prunkvolle Popen,
Arbeiter, die Studenten, Offiziere, Lakaien und Bettler, sie alle unter einem
wehenden Wald von Fahnen und Bannern klagen mit einer Stimme um den
teuren Toten. Die Kirche, in der man ihn eingesegnet, ist ein einziger
Blumenhain, und vor seinem offenen Grabe vereinigen sich alle Parteien zu
einem Schwur der Liebe und Bewunderung. So schenkt er seiner Nation mit
seiner letzten Stunde einen Augenblick der Versöhnung und hält mit
dämonischer Kraft noch einmal die zur Raserei gespannten Gegensätze seiner
Zeit zusammen. Und wie ein grandioser Salut für den Toten springt hinter
seinem letzten Weg die furchtbare Mine auf: die Revolution. Drei Wochen
später wird der Zar ermordet, der Donner des Aufstandes rollt, Blitze der
Züchtigung durchzucken das Land: Wie Beethoven stirbt Dostojewski im
heiligen Aufruhr der Elemente, im Gewitter.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131