Seite - 69 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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daß er mit jener unendlichen Amor fati diese seine Krankheit liebte, als
Schicksal liebte wie jedes seiner Laster und Gefahren. Die Spürsucht des
Dichters bändigt das Leiden des Menschen: Dostojewski wird Herr seines
Leidens, indem er es belauscht. Die äußerste Gefahr seines Lebens, die
Epilepsie, er verwandelt sie in ein höchstes Geheimnis seiner Kunst: eine nie
gekannte geheimnisvolle Schönheit saugt er aus diesen Zuständen, die
wundervoll in den Augenblicken taumelnden Vorgefühls gesammelte
Ichekstase. In ungeheuerlichster Abbreviatur ist hier der Tod mitten im Leben
erlebt und in dieser einen Sekunde vor dem jedesmaligen Sterben, die
stärkste, berauschendste Essenz des Seins, die pathologisch gesteigerte
Anspannung des „Sichselbstempfindens“. Wie ein magisches Symbol bringt
ihm das Schicksal immer wieder seinen intensivsten Lebensaugenblick, die
Minute am Semenowski-Platz ins Blut zurück, als sollte er niemals den
grausigen Kontrast zwischen dem All und dem Nichts in seinem Gefühl
verlernen. Auch hier schnürt immer Dunkel den Blick, auch hier stürzt wie
Wasser aus übervoller, gebeugter Schale die Seele dem Körper aus, schon
zittert sie mit gespannten Flügeln zu Gott empor, schon spürt sie überirdisches
Licht auf den entkörperten Schwingen, Strahl und Gnade einer anderen Welt,
schon sinkt die Erde, schon tönen die Sphären – da stürzt ihn der Donner des
Erwachens wieder zerbrochen ins gemeine Leben hinab. Immer wenn
Dostojewski diese eine Minute beschreibt, das traumhafte Glücksgefühl, das
seine unerhörte Scharfsichtigkeit beobachtend beseelt, wird seine Stimme
leidenschaftlich in Rückerinnerung und der Augenblick des Grauens zum
Hymnus: „Ihr gesunden Menschen, ihr ahnt nicht,“ predigt er begeistert,
„welches Wonnegefühl den Epileptiker eine Sekunde vor dem
Anfall durchdringt. Mohammed erzählt im Koran, er sei im Paradies gewesen
in der kurzen Frist, da sein Krug umstürzte und das Wasser ausrann, und alle
klugen Narrenköpfe behaupten, er sei ein Lügner und Betrüger. Das ist aber
nicht wahr, er lügt nicht. Sicher war er im Paradies während eines
epileptischen Anfalls, einer Krankheit, an der er wie ich selber litt. Ich weiß
nie, ob diese Wonnesekunde Stunden dauert, aber glaubt mir, alle Freude des
Lebens möchte ich nicht dafür eintauschen.“
In dieser glühenden Sekunde geht Dostojewskis Blick über das Einzelne
der Welt hinaus und umfaßt in loderndem Allgefühl die Unendlichkeit. Aber
was er verschweigt, ist die bittere Züchtigung, mit der er jede dieser
krampfhaften Annäherungen an Gott bezahlt. Ein grauenhafter
Zusammenbruch klirrt die kristallenen Sekunden in reißende Scherben, mit
zerbrochenen Gliedern und stumpfen Sinnen stürzt er, ein anderer Ikarus, in
die irdische Nacht zurück. Das Gefühl, noch geblendet vom unendlichen
Licht, tastet sich mühsam im Gefängnis des Körpers zurecht, wie Würmer
kriechen die Sinne blind am Boden des Seins, die eben mit seligen Schwingen
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131