Seite - 72 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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vollkommenste Gegensatzprodukt, der größte Dualist der Kunst und vielleicht
der Menschheit. Symbolisch bringt eins seiner Laster diesen Urwillen seiner
Existenz in sichtbare Form: seine krankhafte Liebe zum Glücksspiel. Der
Knabe schon ist leidenschaftlicher Kartenspieler, aber erst in Europa lernt er
den Teufelsspiegel seiner Nerven kennen: das Rouge et Noir, das Roulett,
dieses in seinem primitiven Dualismus so grausam gefährliche Spiel. Der
grüne Tisch in Baden-Baden, die Spielbank in Monte Carlo sind seine
stärksten Ekstasen in Europa: mehr als die Sixtinische Madonna, die Plastiken
Michelangelos, die Landschaften des Südens, Kunst und Kultur aller Welt
hypnotisieren sie seinen Nerv. Denn hier ist Spannung, Entscheidung –
Schwarz oder Rot, gerad oder ungerad, Glück oder Vernichtung, Gewinn oder
Verlust – in eine einzige Sekunde des rollenden Rades gepreßt, Spannung
konzentriert zu jener schmerzhaft-lustvollen Blitzform des springenden
Gegensatzes, die einzig seinem Charakter entspricht. Die sanften Übergänge,
die Ausgleiche, die matten Steigerungen sind seiner fiebrischen Ungeduld
unerträglich, er mag nicht Geld verdienen auf deutsche, auf
„Wurstmacherart“, durch Umsicht, Sparsamkeit und Berechnung, ihn reizt der
Zufall, die Hingabe an das Ganze. Die Form seines äußern Schicksals ahmt
vor dem grünen Tische der Wille in steter Herausforderung bewußt-unbewußt
nach: die Abbreviatur der Entscheidungen in eine einzige Sekunde, die zur
Spitze geschärfte Sensation, die ihre glühende Nadel tief in den Nerv bohrt,
geheimnisvoll ähnlich der Sekunde im Vorgefühl und Niederbruch des
epileptischen Blitzes, und jener unvergeßlichen Sekunde vom Semenowski-
Platz. Wie das Schicksal mit ihm spielte, so spielt er nun mit dem Schicksal:
er reizt den Zufall zu künstlichen Spannungen, und gerade wenn er gesichert
ist, wirft er immer mit zitternder Hand seine ganze Existenz auf den grünen
Tisch. Dostojewski ist nicht Spieler aus Geldhunger, sondern aus unerhörtem
„unanständigem“, aus Karamasoffschem Lebensdurst, der alles in den
stärksten Essenzen will, aus krankhafter Sehnsucht nach Schwindligkeit, aus
jenem „Turmgefühl“, der Lust, sich über den Abgrund zu beugen. Denn er
liebt den Abgrund, die Tiefe des Lebens, das Dämonische des Zufalls, er liebt
in fanatischer Demut die Mächte, die stärker sind als seine Eigenmacht, und
lockt mit ewiger Reizung immer wieder ihren mörderischen Blitz auf sein
Haupt. Dostojewski provoziert im Glücksspiel das Schicksal: was er einsetzt,
ist nicht Geld und immer sein letztes Geld, sondern damit seine ganze
Existenz; was er ihm abgewinnt, ist äußerster Nervenrausch, tödliche Schauer,
Urangst, das dämonische Weltgefühl. Selbst im goldenen Gift hat
Dostojewski nur neuen Durst nach dem Göttlichen getrunken.
Selbstverständlich, daß er diese Leidenschaft wie jede andere über alles
Maß hinaus bis zum Äußersten, bis hinein in das Laster trieb. Haltzumachen,
Vorsicht, Bedenklichkeit waren diesem Titanentemperament fremd: „Überall
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131