Seite - 73 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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und in allem mein ganzes Leben lang habe ich die Grenze überschritten.“ Und
dies, Grenzen zu überschreiten, ist künstlerisch seine Größe wie menschlich
seine Gefahr: er macht nicht halt vor den Zäunen der bürgerlichen Moral, und
niemand weiß genau zu sagen, wie weit sein Leben die juridische Grenze
überschritten hat, wieviel von den verbrecherischen Instinkten seiner Helden
in ihm selbst Tat geworden ist. Einzelnes ist bezeugt, doch wohl das
Geringere nur. Als Kind hat er betrogen im Kartenspiel, und wie sein
tragischer Narr Marmeladow in „Schuld und Sühne“ aus Gier nach
Branntwein die Strümpfe seiner Frau, so stiehlt auch Dostojewski der seinen
Geld und ein Kleid aus dem Schrank, um es im Roulett zu verspielen. Wie
weit seine sinnlichen Ausschweifungen aus den „Kellerjahren“ ins Perverse
hinüberzittern, wieviel von den „Spinnen der Wollust“ Swidrigailow,
Stawrogin und Fedor Karamasow sich auch bei ihm in sexuellen
Verstörungen auslebte, wagen die Biographen nicht zu erörtern. Seine
Neigungen und Perversitäten, auch sie wurzeln jedenfalls in der
geheimnisvollen Kontrastgier von Verderbtheit und Unschuld, aber es ist
nicht wesenhaft, diese Legenden und Konjekturen (so deutsam sie sind) zu
erörtern. Wichtig ist nur, nicht zu verkennen, daß dem Heiland, dem Heiligen,
dem Aljoscha in Dostojewski-Karamasow der Gegenspieler des Wollüstlings,
des überreizten Sexualmenschen, der schmutzige Fedor im Blute
verschwistert war.
Nur dies ist gewiß: Dostojewski war auch in seiner Sinnlichkeit
Überschreiter des bürgerlichen Maßes und dies nicht im linden Sinn Goethes,
der einst in dem berühmten Worte sagte, daß er die Anlagen zu allen
Schändlichkeiten und Verbrechen lebendig in sich empfände. Denn Goethes
ganze gewaltige Entwicklung bedeutet nichts als eine einzige, ungeheuere
Anstrengung, diese gefährlich wuchernden Keime in sich auszuroden. Der
Olympier will zur Harmonie, seine höchste Sehnsucht ist Zerstörung alles
Gegensatzes, Erkältung des Blutes, die ruhevolle Schwebe der Kräfte. Er
verschneidet die Sinnlichkeit in sich, er rottet unter stärksten Blutverlusten für
seine Kunst alle gefährlichen Keime allmählich um der Sittlichkeit willen aus,
allerdings mit dem Gemeinen auch viel von seiner Kraft vernichtend.
Dostojewski aber, leidenschaftlich in seinem Dualismus wie in allem, was
ihm vom Leben zugefallen, will nicht empor zur Harmonie, die für ihn Starre
ist, er bindet nicht seine Gegensätze ins Göttlich-Harmonische, sondern
spannt sie auseinander zu Gott und Teufel und hat dazwischen die Welt. Er
will unendliches Leben. Und Leben ist ihm einzig elektrische Entladung
zwischen den Polen des Kontrastes. Was Keim in ihm war, das Gute und das
Schlechte, das Gefährliche und das Fördernde, muß empor, alles wird an
seiner tropischen Leidenschaft Blüte und Frucht. Wild läßt er sein Laster
aufwuchern, ungehemmt seine Instinkte, selbst die verbrecherischen, hinein
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131