Seite - 78 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Feder des Antriebs ist ihrer Seele eingebaut, die sie mit einem bestimmten
Maß von Energie durch die menschliche Gesellschaft treibt: wie ein Geschoß
schleudert sie jeden dieser Jünglinge mitten ins Leben hinein. Im höchsten
Sinn wäre man versucht, sie Automaten zu nennen um der Präzision willen,
mit der sie auf jeden einzelnen Lebensreiz reagieren, und wirklich wie eine
Maschine sind sie in ihrer Kraftleistung und ihrem Widerstand für den
technischen Kenner berechenbar. Ist man in Balzac einigermaßen eingelesen,
so kann man die Antwort des Charakters auf die Tatsache so berechnen, wie
die Parabel eines Steinwurfes aus der Stärke ihres Schwunges und der
Schwere des Steins. Grandet, der Harpagon, wird in dem Maße geiziger
werden, als seine Tochter opferwillig und heroisch. Und man weiß von Goriot
schon zu den Zeiten, da er noch in leidlichem Wohlstand lebt und seine
Perücke sorgfältig gepudert ist, daß er einmal seine Weste für die Töchter
verkaufen wird und das Silbergeschirr zerbrechen, seinen letzten Besitz. Er
muß notwendigerweise so handeln aus der Einheit seiner Charakteranlage,
aus dem Trieb, den sein irdisches Fleisch nur unvollkommen mit einer
menschlichen Form umkleidet. Die Charaktere Balzacs (und ebenso Victor
Hugos, Scotts, Dickens’) sind alle primitiv, einfarbig, zielstrebig. Sie sind
Einheiten und darum meßbar auf der Wagschale der Moral. Vielfarbig und
tausendgestaltig ist in jenem geistigen Kosmos nur der Zufall, dem sie
begegnen. Bei jenen Epikern ist das Erlebnis vielfältig, der Mensch die
Einheit, und der Roman selbst der Kampf um die Macht gegen die irdischen
Mächte. Die Helden Balzacs und des ganzen französischen Romans sind
entweder stärker oder schwächer als der Widerstand der Gesellschaft. Sie
bezwingen das Leben, oder sie kommen unter das Rad.
Der Held des deutschen Romans, als dessen Typus Wilhelm Meister oder
der Grüne Heinrich gedacht sei, ist nicht dermaßen seiner Grundrichtung
gewiß. Er hat viele Stimmen in sich, er ist psychologisch differenziert, ist
seelisch polyphon. Das Gute und das Böse, das Starke und das Schwache
fließen wirr in seiner Seele durcheinander: sein Anbeginn ist Verwirrung, und
die Nebel der Frühe umwölken ihm den reinen Blick. Er spürt Kräfte in sich,
aber noch ungesammelt, noch in Widerstreit, er ist ohne Harmonie, aber doch
beseelt vom Willen zur Einheit. Das deutsche Genie zielt nun im letzten Sinne
immer auf Ordnung. Und alle Entwicklungsromane entwickeln nichts anderes
in diesen deutschen Helden als die Persönlichkeit. Die Kräfte werden
gesammelt, der Mensch zum deutschen Ideal, zur Tüchtigkeit erhoben, „im
Strom der Welt bildet sich“ nach Goethes Wort „der Charakter“. Die vom
Leben durcheinandergeschüttelten Elemente klären sich in der errungenen
Ruhe zum Kristall, aus den Lehrjahren tritt der Meister, und vom letzten Blatt
all dieser Bücher, aus dem Grünen Heinrich, dem Hyperion, dem Wilhelm
Meister, dem Ofterdingen blickt ein klares Auge tatkräftig in eine klare Welt.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131