Seite - 81 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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unsere bequemen ausgetretenen Wege mit ihren moralischen Geländern und
ethischen Wegweisern ihnen nicht bekannt sind: immer und überall gehen sie
durchs Dickicht ins Grenzenlose, ins Unendliche hinein. Nirgends Kirchtürme
der Gewißheit, Brücken der Zuversicht: alles heilige Urwelt. Jeder einzelne
fühlt so wie das Rußland Lenins und Trotzkis, daß er die ganze Weltordnung
neu aufbauen müsse, und das ist der unbeschreibliche Wert des russischen
Menschen für Europa, das in seiner Kultur verkrustete, daß hier eine
unverbrauchte Neugier noch einmal alle Fragen des Lebens an die
Unendlichkeit stellt. Daß, wo wir träge wurden in unserer Bildung, andere
noch glühend sind. Jeder einzelne revidiert bei Dostojewski noch einmal alle
Probleme, rückt sich selbst mit blutenden Händen die Grenzsteine von Gut
und Böse, jeder einzelne schafft sich sein Chaos wieder um zur Welt. Jeder
einzelne ist bei ihm Diener, Verkünder des neuen Christus, Märtyrer und
Verkünder eines dritten Reiches. Noch ist das Chaos des Anfangs in ihnen,
aber auch Dämmern des ersten Tages, der das Licht auf Erden schuf, und
schon Ahnung des sechsten, der den neuen Menschen schafft. Seine Helden
sind Wegebauer einer neuen Welt: der Roman Dostojewskis ist der Mythos
des neuen Menschen und seiner Geburt aus dem Schoße der russischen Seele.
Ein Mythos und besonders ein nationaler aber will Gläubigkeit. Man
versuche darum nicht, diese Menschen durch das kristallene Medium der
Vernunft zu erfassen. Nur Gefühl, das allein brüderliche, kann sie verstehen.
Dem common sense, dem Engländer, dem Amerikaner, dem praktischen
Menschen müssen die vier Karamasoffs als vier verschiedene Narren
erscheinen, als Tollhaus die ganze tragische Welt Dostojewskis. Denn was
sonst Alpha und Omega der gesunden simplen, irdischen Natur war und ewig
sein wird, scheint ihnen das Gleichgültigste auf Erden, nämlich:
Glücklichsein. Schlagt sie auf, die fünfzigtausend Bücher, die Europa
alljährlich produziert, wovon handeln sie? Vom Glücklichsein. Ein Weib will
einen Mann, oder einer will reich werden, mächtig und geehrt. Bei Dickens
steht am Ende aller Wünsche das liebliche Cottagehaus im Grünen mit der
munteren Kinderschar, bei Balzac das Schloß mit dem Pairstitel und den
Millionen. Und blicken wir um uns, auf die Straße, in die Butiken, in die
niederen Stuben, in die hellen Säle, was wollen die Menschen dort? Glücklich
sein, zufrieden sein, reich sein, mächtig sein. Wer will es von Dostojewskis
Menschen? Keiner. Nicht ein einziger. Sie wollen nirgends haltmachen: nicht
einmal beim Glück. Sie wollen alle weiter, sie haben alle jenes „höhere
Herz“, das sich quält. Glücklichsein ist ihnen gleichgültig, Zufriedensein ist
ihnen gleichgültig, Reichsein eher verächtlich als erwünscht. Sie wollen
nichts von all dem, diese Seltsamen, was unsere ganze Menschheit will. Sie
haben den uncommon sense. Sie wollen nichts von dieser Welt.
Genügsame also, Phlegmatiker des Lebens, Indifferente oder Asketen? Im
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131