Seite - 82 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Gegenteil. Die Menschen Dostojewskis sind, ich sagte es ja, Menschen eines
neuen Anfangs. Sie haben, bei all ihrer Genialität und ihrem diamantenen
Verstand, Kinderherzen, Kindergelüste: sie wollen nicht dies oder jenes,
sondern sie wollen alles. Und alles ganz stark. Das Gute und das Böse, das
Heiße und das Kalte, das Nahe und das Ferne. Sie sind Übertreiber, sie sind
Maßlose. Ich sagte früher: sie wollen nichts von dieser Welt. Schlecht gesagt.
Sie wollen nichts einzelnes davon, sondern alles, ihr ganzes Gefühl, ihre
ganze Tiefe: das Leben. Vergessen wir nicht, sie sind keine Schwächlinge,
keine Lovelace, keine Hamlets, keine Werthers, keine Rénés – sie haben harte
Muskeln und einen brutalen Lebenshunger, diese Menschen Dostojewskis, sie
sind Karamasoffs, „Raubtiere des Gelüsts“, begabt mit jener „unanständigen
fanatischen“ Lebensgier, die sich an den letzten Tropfen des Kelches ansaugt,
ehe sie ihn zerklirrt. Von allen Dingen suchen sie den Superlativ, überall die
Rotglut des Empfindens, wo die gemeinen Legierungen des Gelegentlichen
zerschmelzen und nichts bleibt als das feuerflüssige brennende Weltgefühl;
wie die Amokläufer rennen sie ins Leben hinein, von der Begierde in die
Reue, von der Reue wieder in die Tat, vom Verbrechen ins Geständnis, vom
Geständnis in die Ekstase, aber alle Gassen ihres Schicksals lang überallhin
bis zum Letzten, bis sie niederstürzen, Schaum vor den Lippen, oder bis ein
anderer sie niederschlägt. O dieser Lebensdurst jedes einzelnen – eine ganze
junge Nation, eine neue Menschheit lechzt von ihren Lippen nach Welt, nach
Wissen, nach Wahrheit! Sucht mir doch, zeigt mir einen Menschen im Werk
Dostojewskis, der ruhig atmet, der rastet, der sein Ziel erreicht hat! Keiner,
kein einziger! Alle sind sie in diesem rasenden Wettlauf zur Höhe und zur
Tiefe – denn nach Aljoschas Formel muß, wer die erste Stufe betreten hat, bis
zur letzten hinstreben – nach allen Seiten, in Frost und Brand, greifen sie,
gieren sie, diese Unersättlichen, diese Maßlosen, die ihr Maß nur suchen und
finden in der Unendlichkeit. Wie Pfeile schnellen sie sich in ewiger Spannung
von der Sehne ihrer Kraft in den Himmel hinein, immer in der Richtung des
Unerreichbaren, immer zu Sternen zielend, jeder eine Flamme, ein Feuer der
Unruhe. Und Unruhe ist Qual. Darum sind die Helden Dostojewskis alle die
großen Leidenden. Alle haben sie verzerrte Gesichter, alle leben sie im Fieber,
im Krampf, im Spasma. Ein Hospital von Nervenkranken, hat erschreckt ein
großer Franzose Dostojewskis Welt genannt, und wirklich, für den ersten, den
äußeren Anblick, welch eine trübe, welch eine phantastische Sphäre!
Schankstuben voll Branntweindunst, Gefängniszellen, Winkel in
Vorstadtwohnungen, Bordellgassen und Kneipen, und dort in
Rembrandtschem Dunkel ein Gewühl von ekstatischen Gestalten, der Mörder,
das Blut seines Opfers über den erhobenen Händen, der Trunkenbold im
Gelächter der Zuhörer, das Mädchen mit dem gelben Schein im Zwielicht der
Gasse, das epileptische Kind, bettelnd an den Straßenecken, der siebenfache
Mörder in der Katorga Sibiriens, der Spieler zwischen den Fäusten der
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131