Seite - 83 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Spießgesellen, Rogoschin, wie ein Tier sich wälzend vor dem verschlossenen
Gemach seiner Frau, der ehrliche Dieb, sterbend im schmutzigen Bette –
welche Unterwelt des Gefühls, welcher Hades der Leidenschaften! O, welche
tragische Menschheit, welch russischer, grauer, ewig dämmernder, niederer
Himmel über diesen Gestalten, welche Dunkelheiten des Herzens und der
Landschaft! Gelände des Unglücks, Wüsten der Verzweiflung, Fegefeuer
ohne Gnade und Gerechtigkeit.
O wie dunkel, wie verworren, wie fremd, wie feindlich ist sie zuerst, diese
Menschheit, diese russische Welt! Von Leiden scheint sie überflutet, und diese
Erde, wie Iwan Karamasoff so grimmig sagt, „getränkt von Tränen bis zu
ihrem innersten Kern“. Aber so wie Dostojewskis Antlitz dem ersten Blicke
düster, lehmig, gedrückt, bäurisch und gebeugt anmutet, dann aber der Glanz
seiner Stirne, aufstrahlend über die Versunkenheit, das Irdische seiner Züge,
seine Tiefe durch Glauben erleuchtet, so durchstrahlt auch im Werke das
geistige Licht die dumpfe Materie. Aus Leiden scheint Dostojewskis Welt
einzig gestaltet. Und doch ist nur scheinbar die Summe alles Leidens in
seinen Menschen größer als in jedem anderen Werke. Denn, Kinder
Dostojewskis, sind diese Menschen alle Verwandler ihres Gefühles, sie
treiben es und übertreiben es von Kontrast zu Kontrast. Und das Leiden, ihr
eigenes Leiden ist oft ihre tiefste Seligkeit. In ihnen wirkt etwas, das der
Wollust, der Lust am Glück, tiefsinnig die Wehlust, die Lust an der Qual
gegenüberstellt: ihr Leiden ist zugleich ihr Glücklichsein, sie halten es fest
mit den Zähnen, wärmen es an ihrer Brust, sie schmeicheln es mit den
Händen, sie lieben es mit ihrer ganzen Seele. Und sie wären nur dann die
Unglücklichsten, liebten sie es nicht. Dieser Tausch, der rasende frenetische
Tausch des Gefühls im Innern, diese ewige Umwertung des Dostojewskischen
Menschen kann vielleicht nur ein Beispiel ganz klarmachen, und ich wähle
eines, das in tausend Formen wiederkehrt: das Leid, das einem Menschen
infolge einer Erniedrigung, einer tatsächlichen oder eingebildeten, widerfährt.
Irgendeiner, ein schlichtes sensitives Geschöpf, gleichgültig ob ein kleiner
Beamter oder eine Generalstochter, wird beleidigt. In seinem Stolz gekränkt
durch ein Wort, eine Nichtigkeit vielleicht. Diese erste Kränkung ist der
Primäraffekt, der den ganzen Organismus in Aufruhr bringt. Der
Mensch leidet. Er ist gekränkt, liegt auf der Lauer, spannt sich an und wartet –
auf eine neue Kränkung. Und die zweite Kränkung kommt: also eigentlich
Häufung des Leidens. Aber seltsam, sie tut nicht mehr weh. Zwar der
Gekränkte klagt, er schreit, aber seine Klage ist schon nicht mehr wahr: denn
er liebt diese Kränkung. In diesem „fortwährend-sich-seiner-Schmach-
bewußt-sein ist ein unnatürlicher heimlicher Genuß“. Für den beleidigten
Stolz hat er einen neuen: den des Märtyrers. Und jetzt entsteht in ihm der
Durst nach neuer Kränkung, nach mehr und mehr. Er beginnt zu provozieren,
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131