Seite - 84 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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er übertreibt, er fordert heraus: das Leiden ist jetzt seine Sehnsucht, seine
Gier, seine Lust: man hat ihn erniedrigt, so will er (der Mensch ohne Maß)
ganz niedrig sein. Und er gibt es nicht her mehr, sein Leiden, mit verbissenen
Zähnen hält er es fest: jetzt wird der Hilfreiche sein Feind, der Liebende. So
schlägt die kleine Nelly dem Arzt dreimal das Pulver ins Gesicht, so stößt
Raskolnikoff Sonja zurück, so beißt Iljutschka den frommen Aljoscha in die
Finger – aus Liebe, aus fanatischer Liebe zu ihrem Leiden. Und alle, alle
lieben sie das Leiden, weil sie darin das Leben, das geliebte, so stark spüren,
weil sie wissen, „man kann auf dieser Erde nur durch Leiden wahrhaft
lieben“, und das wollen sie, das vor allem! Es ist ihr stärkster Existenzbeweis:
statt des cogito, ergo sum, „ich denke, also bin ich“, setzen sie das: „ich leide,
also bin ich“. Und dieses „Ich bin“ ist bei Dostojewski und allen seinen
Menschen der höchste Triumph des Lebens. Der Superlativ des Weltgefühls.
Im Kerker jauchzt Dimitry die große Hymne an dieses „Ich bin“, an die
Wollust des Seins, und eben um dieser Liebe zum Leben willen ist ihnen allen
das Leiden notwendig. Nur scheinbar, sagte ich, ist darum die Summe des
Leidens größer bei Dostojewski als bei allen anderen Dichtern. Denn wenn es
eine Welt gibt, wo nichts unerbittlich ist, aus jedem Abgrund noch ein Weg
führt, aus jedem Unglück noch Ekstase, aus jeder Verzweiflung noch
Hoffnung, so ist es die seine. Was ist dies Werk anderes als eine Reihe von
modernen Apostelgeschichten, Legenden der Erlösung vom Leiden durch den
Geist? Der Bekehrungen zum Lebensglauben, der Kalvariengänge zur
Erkenntnis? Der Wege nach Damaskus mitten durch unsere Welt?
In Dostojewskis Werk ringt der Mensch um seine letzte Wahrheit, um sein
allmenschliches Ich. Ob ein Mord geschieht oder eine Frau in Liebe brennt,
alles das ist Nebensache, Außensache, Kulisse. Sein Roman spielt im
innersten Menschen, im Seelenraum, in der geistigen Welt: die Zufälle, die
Ereignisse, die Schickungen des äußeren Lebens sind nur Stichworte,
Maschinerie, der szenische Rahmen. Die Tragödie ist immer innen. Und sie
heißt immer: die Überwindung der Hemmungen, der Kampf um die Wahrheit.
Jeder seiner Helden fragt sich, wie Rußland selbst: Wer bin ich? Was bin ich
wert? Er sucht sich oder vielmehr den Superlativ seines Wesens im Haltlosen,
im Raumlosen, im Zeitlosen. Er will sich erkennen als der Mensch, der er vor
Gott ist, und er will sich bekennen. Denn jedem Dostojewski-Menschen ist
die Wahrheit mehr als Bedürfnis, sie ist ihm ein Exzeß, eine Wollust und das
Geständnis seine heiligste Lust, sein Spasma. Im Geständnis bricht bei
Dostojewski der innere Mensch, der Allmensch; der Gottesmensch durch den
irdischen, die Wahrheit – und dies ist Gott – durch seine fleischliche Existenz.
O die Wollust, mit der sie darum mit dem Geständnis spielen, wie sie es
verbergen und – Raskolnikoff vor Porphyri Petrowitsch – immer heimlich
zeigen und wieder verstecken, und dann wieder, wie sie sich überschreien,
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131