Seite - 85 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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mehr Wahrheit bekennen als wahr ist, wie sie in rasendem Exhibitionismus
ihre Blößen aufdecken, wie sie Laster und Tugend vermengen – hier, nur hier,
im Ringen um das wahre Ich sind die eigentlichen Spannungen Dostojewskis.
Hier, ganz innen ist der große Kampf seiner Menschen, die mächtigen
Epopöen des Herzens: hier, wo das Russische, das Fremdartige in ihnen sich
aufzehrt, hier wird auch ihre Tragödie erst ganz zur unseren, zur
allmenschlichen. Da wird das typische Schicksal seiner Menschen deutsam
und erschütternd, und restlos erleben wir im Mysterium der Selbstgeburt den
Mythos Dostojewskis vom neuen Menschen, vom Allmenschen in jedem
Irdischen.
Das Mysterium der Selbstgeburt: so nenne ich in der Kosmogonie, in der
Weltschöpfung Dostojewskis die Erschaffung des neuen Menschen. Und ich
möchte versuchen, die Geschichte aller Naturen Dostojewskis in einer zu
erzählen, als seinen Mythos; denn alle diese verschiedenartigen, hundertfach
variierten Menschen haben im letzten nur ein einheitliches Schicksal. Alle
leben sie Varianten eines einzigen Erlebnisses: der Menschwerdung.
Vergessen wir nicht: die Kunst Dostojewskis zielt immer auf den Mittelpunkt
und in der Psychologie darum auf den Menschen im Menschen, den
absoluten, den abstrakten Menschen, der weit hinter allen kulturellen
Schichtungen liegt. Für die meisten Künstler sind die Schichtungen noch
wesentlich, die Vorgänge der Durchschnittsromane spielen in sozialer,
gesellschaftlicher, erotischer und konventioneller Sphäre und bleiben in
diesen Schichten stecken. Dostojewski stößt, weil er zentral gerichtet ist,
immer durch zum Allmenschen im Menschen, zu jenem Ich, das
allgemeinsam ist. Immer bildet er diesen letzten Menschen und immer in
verwandter Form seine Sendung. Gleich ist all seiner Helden Anbeginn. Als
echte Russen beunruhigt sie ihre eigene Lebenskraft. In den Jahren der
Pubertät, des sinnlichen und geistigen Erwachens, verdüstert sich ihnen der
heitere und freie Sinn. Dumpf fühlen sie in sich eine Kraft gären, ein
geheimnisvolles Drängen; irgend etwas Eingesperrtes, Wachsendes und
Quellendes will aus ihrem noch unmündigen Kleid. Eine geheimnisvolle
Schwangerschaft (es ist der neue Mensch, der in ihnen keimt, aber sie wissen
es nicht) macht sie träumerisch. Sie sitzen „einsam bis zur Verwilderung“ in
dumpfen Stuben, in einsamen Winkeln und denken, denken Tag und Nacht
über sich nach. Jahrelang brüten sie oft dahin in dieser seltsamen Ataraxie, sie
verharren in einem fast buddhistischen Zustand der Seelenstarre, sie beugen
sich tief über den eigenen Leib, um wie die Frauen in den frühen Monaten das
Klopfen dieses zweiten Herzens in sich zu erlauschen. Alle geheimnisvollen
Zustände der Befruchteten überkommen sie: die hysterische Angst vor dem
Tode, das Grauen vor dem Leben, krankhafte, grausame Begierden, sinnliche
perverse Gelüste.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131