Seite - 87 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Verbrechen glühen bis zur Kinderschändung und zum Mord, aber typisch ist
für sie alle die gesteigerte Unlust in der gesteigerten Lust: bis in den untersten
Abgrund ihrer Raserei zuckt die Flamme des Bewußtseins der fanatischen
Reue nach.
Aber je weiter hinein sie in der Übertreibung der Sinnlichkeit und des
Denkens rasen, um so näher sind sie schon sich selbst, und je mehr sie sich
vernichten wollen, um so eher sind sie zurückgewonnen. Ihre traurigen
Bacchanale sind nur Zuckungen, ihre Verbrechen die Krämpfe der
Selbstgeburt. Ihre Selbstzerstörung zerstört nur die Schale um den innern
Menschen und ist Selbstrettung im höchsten Sinn. Je mehr sie sich anspannen,
je mehr sie sich krümmen und winden, um so mehr befördern sie unbewußt
die Geburt. Denn nur im brennendsten Schmerz kann das neue Wesen zur
Welt kommen. Ein Ungeheures, ein Fremdes muß dazu treten, muß sie
befreien, irgendeine Macht Wehmutter werden in ihrer schwersten Stunde, die
Güte muß ihnen helfen, die allmenschliche Liebe. Eine äußerste Tat, ein
Verbrechen, das all ihre Sinne zur Verzweiflung spannt, ist nötig, um die
Reinheit zu gebären, und hier wie im Leben ist jede Geburt umschattet von
tödlichster Gefahr. Die beiden äußersten Kräfte des menschlichen Vermögens,
Tod und Leben, sind in dieser Sekunde innig verschränkt.
Dies also ist der menschliche Mythos Dostojewskis, daß das gemischte,
dumpfe, vielfältige Ich jedes einzelnen befruchtet ist mit dem Keim des
wahren Menschen (jenes Urmenschen der mittelalterlichen Weltanschauung,
der frei ist von der Erbsünde), des elementaren, rein göttlichen Wesens.
Diesen urewigen Menschen aus dem vergänglichen Leib des Kulturmenschen
in uns zum Austrag zu bringen, ist höchste Aufgabe und die wahrste irdische
Pflicht. Befruchtet ist jeder, denn keinen verstößt das Leben, jeden Irdischen
hat es in einer seligen Sekunde mit Liebe empfangen, doch nicht jeder gebiert
seine Frucht. Bei manchem verfault sie in einer seelischen Lässigkeit, sie
stirbt ab und vergiftet ihn. Andere wieder sterben in den Wehen, und nur das
Kind, die Idee, kommt zur Welt. Kirillow ist einer, der sich ermorden muß,
um ganz wahr bleiben zu können, Schatow ist einer, der ermordet wird, um
seine Wahrheit zu bezeugen.
Aber die anderen, die heroischen Helden Dostojewskis, der Staretz
Sossima, Raskolnikoff, Stepanowitsch, Rogoschin, Dmitrij Karamasoff
vernichten ihr soziales Ich, den dunklen Raupenstand ihres inneren Wesens,
um wie Schmetterlinge sich der abgestorbenen Form zu entschwingen, das
Beflügelte aus dem Kriechenden, das Erhobene aus dem Erdschweren. Die
Umkrustung der seelischen Hemmung zerbricht, die Seele, die
Allmenschenseele strömt aus, strömt ins Unendliche zurück. Alles
Persönliche, alles Individuelle ist in ihnen abgetan, daher auch die absolute
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131