Seite - 88 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Ähnlichkeit all dieser Gestalten im Augenblick ihrer Vollendung. Aljoscha ist
kaum von dem Staretz, Karamasoff kaum von Raskolnikoff zu unterscheiden,
wie sie aus ihren Verbrechen mit tränengebadetem Gesicht in das Licht des
neuen Lebens treten. Am Ende aller Romane Dostojewskis ist die Katharsis
der griechischen Tragödie, die große Entsühnung: über den verdonnernden
Gewittern und der gereinigten Atmosphäre flammt die erhabene Glorie des
Regenbogens, das höchste russische Symbol der Versöhnung.
Erst wenn die Helden Dostojewskis den reinen Menschen aus sich geboren
haben, treten sie in die wahre Gemeinschaft. Bei Balzac triumphiert der Held,
wenn er die Gesellschaft bezwingt, bei Dickens, wenn er sich in die soziale
Schicht, in das bürgerliche Leben, in die Familie, in den Beruf friedlich
einordnet. Die Gemeinschaft, die der Held Dostojewskis anstrebt, ist keine
soziale mehr, sondern schon eine religiöse, er sucht nicht Gesellschaft,
sondern Weltbruderschaft. Und dies Hingelangen zur eigenen Innerlichkeit
und damit zur mystischen Gemeinsamkeit ist die einzige Hierarchie in seinem
Werk. Einzig von diesem letzten Menschen handeln alle seine Romane: das
Soziale, die Zwischenstadien der Gesellschaft mit ihrem halben Stolz und
schiefen Haß sind überwunden, der Ichmensch ist zum Allmenschen
geworden, seine Einsamkeit, seine Absonderung, die nur Stolz war, hat jeder
zerbrochen, und in unendlicher Demut und glühender Liebe grüßt sein Herz
den Bruder, den reinen Menschen in jedem anderen. Dieser letzte, gereinigte
Mensch kennt keine Unterschiede mehr, kein soziales Standesbewußtsein:
nackt, wie im Paradies, hat seine Seele keine Scham, keinen Stolz, keinen
Haß und keine Verachtung. Verbrecher und Dirne, Mörder und Heilige,
Fürsten und Trunkenbolde, sie halten Zwiesprache in jenem untersten und
eigentlichsten Ich ihres Lebens, alle Schichten fließen ineinander, Herz zu
Herz, Seele in Seele. Nur das entscheidet bei Dostojewski: wie weit einer
wahr wird und zum wirklichen Menschentum gelangt. Wie diese Entsühnung,
diese Selbstgewinnung zustande kam, ist gleichgültig. Keine Ausschweifung
beschmutzt, kein Verbrechen verdirbt, es gibt kein Tribunal vor Gott als das
Gewissen. Recht und Unrecht, Gut und Böse, diese Worte zerfließen im
Leidensfeuer. Wer wahr ist im Willen, der ist entsühnt: denn wer wahr ist, ist
demütig. Wer erkannt hat, versteht alles und weiß, „daß die Gesetze des
Menschengeistes noch so unerforscht und geheimnisvoll sind, daß es weder
gründliche Ärzte noch endgültige Richter gibt“, weiß, es ist keiner schuldig
oder alle, keiner darf keines Richter sein, jeder nur Bruder dem Bruder. Im
Kosmos Dostojewskis gibt es darum keine endgültig Verworfenen, keine
„Bösewichter“, keine Hölle und keinen untersten Kreis wie bei Dante, aus
denen selbst Christus die Verurteilten nicht zu erheben vermag. Er kennt nur
Purgatorien und weiß, daß der irrhandelnde Mensch noch immer mehr der
seelisch Glühende ist und näher dem wahren Menschen als die Stolzen, die
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131