Seite - 91 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Retorte seines Gehirns 2000 Bücher aus der Pariser Nationalbibliothek, um
das Naturkolorit der „Tentation“ oder der „Salambo“ zu finden, Zola läuft drei
Monate, ehe er seine Romane schreibt, wie ein Reporter mit dem Notizbuch
auf die Börse, in die Warenhäuser und Ateliers, um Modelle
abzuzeichnen, Tatsachen einzufangen. Die Wirklichkeit ist diesen
Weltabzeichnern eine kalte, berechenbare, offenliegende Substanz. Sie sehen
alle Dinge mit dem wachen, wägenden, tarierenden Blick des Photographen.
Sie sammeln, ordnen, mischen und destillieren, kühle Wissenschaftler der
Kunst, die einzelnen Elemente des Lebens, und betreiben eine Art Chemie der
Bindung und Lösung.
Dostojewskis künstlerischer Beobachtungsprozeß dagegen ist vom
Dämonischen nicht abzulösen. Ist Wissenschaft jenen anderen Kunst, so ist
die seine Schwarzkunst. Er treibt nicht experimentelle Chemie, sondern
Alchimie der Wirklichkeit, nicht Astronomie, sondern Astrologie der Seele.
Er ist kein kühler Forscher. Als heißer Halluzinant starrt er nieder in die Tiefe
des Lebens wie in einen dämonischen Angsttraum. Aber doch, seine
sprunghafte Vision ist vollkommener als jener geordnete Betrachtung. Er
sammelt nicht, und hat doch alles. Er berechnet nicht, und doch ist sein Maß
unfehlbar. Seine Diagnosen, die hellseherischen, fassen im Fieber der
Erscheinung den geheimnisvollen Ursprung, ohne den Puls der Dinge nur
anzutasten. Etwas von hellsichtiger Traumerkenntnis ist in seinem Wissen,
etwas von Magie in seiner Kunst. Zauberisch durchdringt er die Rinde des
Lebens und saugt von seinen süßen, quellenden Säften. Immer kommt sein
Blick nur aus der eigenen Tiefe seines freilich allwissenden Seins, aus dem
Mark und Nerv dämonischer Natur und übertrifft doch an Wahrhaftigkeit, an
Realität, alle Realisten. Mystisch erkennt er alles von innen. Ein Zeichen
bloß, und schon faßt er faustisch die Welt. Ein Blick, und schon wird er zum
Bild. Er braucht nicht viel zu zeichnen, nicht die Kärrnerarbeit des Details zu
leisten. Er zeichnet mit Magie. Man besinne einmal die großen Gestalten
dieses Realisten: Raskolnikoff, Aljoscha und Fedor Karamasoff, Myschkin,
sie, die uns allen so ungeheuer gegenständlich sind im Gefühl. Wo schildert er
sie? In drei Zeilen vielleicht umreißt er ihr Antlitz mit einer Art
zeichnerischer Kurzschrift. Er sagt von ihnen gleichsam nur ein Merkwort,
umschreibt ihr Gesicht mit vier oder fünf schlichten Sätzen, und das ist alles.
Das Alter, der Beruf, der Stand, die Kleidung, die Haarfarbe, die
Physiognomik, all das scheinbar so Wesentliche der Personenbeschreibung ist
in bloß stenographischer Kürze festgehalten. Und doch, wie glüht jede dieser
Figuren uns im Blut. Man vergleiche nun mit diesem magischen Realismus
die exakte Schilderung eines konsequenten Naturalisten. Zola nimmt, ehe er
zu arbeiten anfängt, ein ganzes Bordereau von seinen Figuren auf, er verfaßt
(man kann sie heute noch nachsehen, diese merkwürdigen Dokumente) einen
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131