Seite - 92 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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regelrechten Steckbrief, einen Passierschein für jeden Menschen, der die
Schwelle des Romanes übertritt. Er mißt ihn ab, wieviel Zentimeter er hoch
ist, notiert, wieviel Zähne ihm fehlen, er zählt die Warzen auf seinen Wangen,
streicht den Bart nach, ob er rauh oder zart ist, greift jeden Pickel auf der Haut
ab, tastet die Fingernägel nach, er weiß die Stimme, den Atem seiner
Menschen, er verfolgt ihr Blut, Erbschaft und Belastung, schlägt sich ihr
Konto auf in der Bank, um ihre Einnahmen zu wissen. Er mißt, was man von
außen überhaupt nur messen kann. Und doch, kaum daß die Gestalten in
Bewegung geraten, verflüchtigt sich die Einheit der Vision, das künstliche
Mosaik zerbricht in seine tausend Scherben. Es bleibt ein seelisches
Ungefähr, kein lebendiger Mensch.
Hier ist nun der Fehler jener Kunst: die französischen Naturalisten
schildern exakt die Menschen zu Anfang des Romanes in ihrer Ruhe,
gleichsam in ihrem seelischen Schlaf: ihre Bilder sind darum bloß von der
nutzlosen Treue der Totenmasken. Man sieht den Toten, die Figur, nicht das
Leben darin. Aber genau wo jener Naturalismus endet, beginnt erst der
unheimlich große Naturalismus Dostojewskis. Seine Menschen werden
plastisch erst in der Erregtheit, in der Leidenschaft, im gesteigerten Zustand.
Während jene versuchen, die Seele durch den Körper darzustellen, bildet er
den Körper durch die Seele: erst wenn die Leidenschaft seinen Menschen die
Züge strafft und spannt, das Auge sich feuchtet im Gefühl, wenn die Maske
der bürgerlichen Stille, die Seelenstarre, von ihnen abfällt, wird sein Bild erst
bildhaft. Erst wenn seine Menschen glühen, tritt Dostojewski, der Visionär, an
das Werk, sie zu formen.
Absichtlich sind also und nicht zufällig bei Dostojewski die anfänglich
dunkeln und ein wenig schattenhaften Konturen der ersten Schilderung. In
seine Romane tritt man ein wie in ein dunkles Zimmer. Man sieht nur
Umrisse, hört undeutliche Stimmen, ohne recht zu fühlen, wem sie
zugehören. Erst allmählich gewöhnt sich, schärft sich das Auge: wie auf den
Rembrandtschen Gemälden beginnt aus einer tiefen Dämmerung das feine
seelische Fluidum in den Menschen zu strahlen. Erst wenn sie in die
Leidenschaft geraten, treten sie ins Licht. Bei Dostojewski muß der Mensch
immer erst glühen, um sichtbar zu werden, seine Nerven müssen gespannt
sein bis zum Zerreißen, um zu klingen: „Um eine Seele formt sich bei ihm nur
der Körper, um eine Leidenschaft nur das Bild.“ Jetzt erst, da sie gleichsam
angeheizt sind, da in ihnen der merkwürdige Fieberzustand beginnt – alle
Menschen Dostojewskis sind ja wandelnde Fieberzustände –, setzt sein
dämonischer Realismus ein, beginnt jene zauberische Jagd nach den
Einzelheiten, jetzt erst schleicht er der kleinsten Bewegung nach, gräbt das
Lächeln aus, kriecht in die krummen Fuchslöcher der verworrenen Gefühle,
folgt jeder Fußspur ihrer Gedanken bis in das Schattenreich des Unbewußten.
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131