Seite - 93 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Jede Bewegung zeichnet sich plastisch ab, jeder Gedanke wird kristallen klar,
und je mehr sich die gejagten Seelen ins Dramatische verstricken, um so mehr
glühen sie von innen, um so durchsichtiger wird ihr Wesen. Gerade die
unfaßbarsten, die jenseitigsten Zustände, die krankhaften, die hypnotischen,
die ekstatischen, die epileptischen haben bei Dostojewski die Präzision einer
klinischen Diagnose, den klaren Umriß einer geometrischen Figur. Nicht die
feinste Nuance ist dann verschwommen, nicht die kleinste Schwingung
entgleitet dann seinen geschärften Sinnen: gerade dort, wo die anderen
Künstler versagen und, gleichsam geblendet vom übernatürlichen Licht, den
Blick wegwenden, dort wird Dostojewskis Realismus am sichtbarsten. Und
diese Augenblicke, wo der Mensch die äußersten Grenzen seiner
Möglichkeiten erreicht, wo Wissen schon fast Wahnwitz wird und
Leidenschaft zum Verbrechen, sie sind auch die unvergeßlichsten Visionen
seines Werkes. Rufen wir uns das Bild Raskolnikoffs in die Seele, so sehen
wir ihn nicht als schlendernde Gestalt auf der Straße oder im Zimmer, als
einen jungen Mediziner von 25 Jahren, als Menschen von diesen und jenen
äußeren Eigenheiten, sondern in uns ersteht die dramatische Vision seiner
irren Leidenschaft, wie er mit zitternden Händen, kalten Schweiß auf der
Stirn, gleichsam mit geschlossenen Augen die Treppe des Hauses
hinaufschleicht, wo er gemordet hat, und in geheimnisvoller Trance, um seine
Qualen noch einmal sinnlich zu genießen, die blecherne Klingel an der Türe
der Ermordeten zieht. Wir sehen Dimitri Karamasoff in den Purgatorien des
Verhörs, schäumend vor Wut, schäumend vor Leidenschaft, den Tisch
zertrümmern mit seinen rasenden Fäusten. Immer sehen wir bei Dostojewski
den Menschen erst bildhaft im Zustande der höchsten Erregtheit, am
Endpunkte seines Gefühles. So wie Leonardo in seinen grandiosen
Karikaturen die Groteske des Körpers, die Abnormität des Physischen
zeichnet, dort, wo sie über die gemeine Form hervordrängt, so faßt
Dostojewski die Seele des Menschen im Augenblick des Überschwangs,
gleichsam in den Sekunden, wo sich der Mensch über den äußersten Rand
seiner Möglichkeiten vorbeugt. Der mittlere Zustand ist ihm wie jeder
Ausgleich, wie jede Harmonie, verhaßt: nur das Außerordentliche, das
Unsichtbare, das Dämonische reizt seine künstlerische Leidenschaft zum
äußersten Realismus. Er ist der unvergleichlichste Plastiker des
Ungewöhnlichen, der größte Anatom der reizbaren und kranken Seele, den
die Kunst je gekannt.
Das Instrument nun, das geheimnisvolle, mit dem Dostojewski in diese
Tiefe seiner Menschen dringt, ist das Wort. Goethe schildert alles durch den
Blick. Er ist – Wagner hat diese Unterscheidung am glücklichsten
ausgesprochen – Augenmensch, Dostojewski Ohrenmensch. Er muß seine
Menschen erst sprechen hören, sprechen lassen, damit wir sie als sichtbar
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131