Seite - 96 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Harmonie, keinen Ausgleich. Immer in allen seinen Werken sind diese
schneidenden Zerrissenheiten, wo er mit satanischem Detail die sublimsten
Sekunden aufsprengt und dem Heiligsten des Lebens seine Banalität
entgegengrinst. Ich erinnere nur an die Tragödie des „Idioten“, um einen
solchen Augenblick des Kontrastes sichtlich zu machen. Rogoschin hat
Nastassja Philipowna ermordet, nun sucht er Myschkin, den Bruder. Er findet
ihn auf der Straße, er rührt ihn an mit der Hand. Sie brauchen nicht
miteinander zu sprechen, furchtbare Ahnung weiß alles voraus. Sie gehen
über die Straße in das Haus, wo die Ermordete liegt: irgendein ungeheueres
Vorempfinden von Größe und Feierlichkeit hebt sich in einem auf, alle
Sphären erklingen. Die beiden Feinde eines Lebens, Brüder im Gefühl,
schreiten in das Zimmer zur Ermordeten. Nastassja Philipowna liegt tot. Man
spürt, diese Menschen werden sich nun das Letzte sagen, wie sie einander
gegenüberstehen an der Leiche der Frau, die sie entzweite. Und dann kommt
das Gespräch – und alle Himmel sind zerschlagen von der nackten, brutalen,
brennend irdischen, teuflisch geistigen Sachlichkeit. Sie sprechen davon als
erstes, als einziges – ob die Leiche riechen wird. Und Rogoschin erzählt mit
schneidender Sachlichkeit, er habe „gute amerikanische Wachsleinwand“
gekauft und „vier Fläschchen einer desinfizierenden Flüssigkeit“ darauf
gegossen.
Solche Details sind es, die ich bei Dostojewski die sadistischen, die
satanischen nenne, weil hier der Realismus mehr ist als ein bloßer Kunstgriff
der Technik, weil er eine metaphysische Rache ist, Ausbruch geheimnisvoller
Wollust, einer gewaltsamen ironischen Enttäuschung. „Vier Fläschchen!“ das
Mathematische der Zahl, „amerikanische Wachsleinwand!“ die grauenhafte
Präzision des Details – das sind absichtliche Zerstörungen der seelischen
Harmonie, grausame Revolten gegen die Einheit des Gefühls. Hier wird
Wahrheit über sich selbst hinaus schon Exzeß, Laster und Marter, und diese
entsetzlichen Niederstürze aus den Himmeln des Gefühls in die schmutzigen
Steinbrüche der Wirklichkeit würden Dostojewski unerträglich machen, wäre
die gleiche Gewalt des Kontrastes nicht auch im Gegenspiel vorhanden,
entstünde nicht immer wieder auch die ungeheuere seelische Ekstase bei ihm
aus den schmutzigsten Winkeln der Wirklichkeit. Man erinnere sich nur an
die Welt Dostojewskis. Sie ist, rein sozial genommen, ein Wurmloch, knapp
an der Gosse des Lebens, immer in den dumpfesten Sphären der Armut und
Kläglichkeit. Mit absichtlicher Bewußtheit (er ist der Antiromantiker, wie er
der Antisentimentale ist) stellt er seine Szenerie mitten in die Banalität hinein.
Schmutzige Kellerlokale, stinkend von Bier und Schnaps, dumpfe enge
„Särge“ von Zimmern, nur abgetrennt durch Holzwände, nie Salons, Hotels,
Paläste, Kontore. Und mit Absicht sind seine Menschen äußerlich
„uninteressant“, schwindsüchtige Frauen, verlumpte Studenten, Nichtstuer,
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131