Seite - 97 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Verschwender, Tagediebe, niemals aber soziale Persönlichkeiten. Aber gerade
in diese dumpfe Alltäglichkeit stellt er die größten Tragödien der Zeit. Aus
dem Erbärmlichen steigt das Erhabene phantastisch auf. Nichts wirkt
dämonischer bei ihm als dieser Kontrast äußerer Nüchternheit und seelischer
Trunkenheit, räumlicher Armut und Verschwendung des Herzens. In
Schnapszimmern verkünden trunkene Menschen die Wiederkehr des Dritten
Reiches, sein Heiliger Aljoscha erzählt die tiefste Legende, während ihm eine
Dirne auf dem Schoße sitzt, in Bordellen und Spielhäusern entfalten sich die
Apostolate der Güte und Verkündung, und die erhabenste Szene
Raskolnikoffs, wo der Mörder sich niederwirft und vor dem Leiden der
ganzen Menschheit sich beugt, sie spielt im Zimmerwinkel einer Dirne bei
dem stotternden Schneider Kapernaumow.
Ein ununterbrochener Wechselstrom, kalt oder warm, warm oder kalt, aber
nie lau, ganz im Sinne der Apokalypse, durchblutet seine Leidenschaft das
Leben. In einer Phrenesie von Kontrasten stellt der Dichter hier das Erhabene
mit dem Banalen stetig Stirn an Stirn, von Unruhe zu Unruhe wirft er die
aufgereizten Gefühle. Nie gerät man darum bei den Romanen Dostojewskis
zur Rast, nie in die sanfte, musikalische Rhythmik des Lesens, nie läßt er
einem ruhig den Atem rinnen, immer zuckt man wie unter elektrischen
Schlägen beunruhigt auf, heißer, brennender, unruhiger, neugieriger von Seite
zu Seite. Solange wir in seiner dichterischen Gewalt sind, werden wir ihm
selber ähnlich. Wie in sich selbst, dem ewigen Dualisten, dem Menschen am
Kreuzholz des Zwiespalts, wie in seinen Gestalten, zersprengt Dostojewski
auch dem Leser die Einheit des Gefühls.
Das ist ewige Eigenart seiner Darstellung, und es wäre Herabwürdigung,
sie mit dem Handwerkerwort „Technik“ zu benennen, denn diese Kunst
kommt mitten aus Dostojewskis Persönlichkeit, aus dem brennenden
Urzwiespalt seines Gefühls. Seine Welt ist offenbare Wahrheit und
Geheimnis, zugleich hellseherische Erkenntnis der Wirklichkeit, Wissen und
Magie. Das Unfaßbarste scheint verständlich, das Verständlichste unfaßbar:
beugen sich die Probleme schon über den äußersten Rand der Möglichkeiten
hinaus, so stürzen sie doch nie ins Gestaltlose hinab. Mit unerhörtester Kraft
klemmen die visionär-realen Einzelheiten seine Figuren im Irdischen fest, nie
gleitet eine ins Schattenhafte hinüber. Wen Dostojewski schildert, dessen
Wesen hat er visionär inne bis in die letzte Wirrnis seiner Nervenstränge, er
tastet ihm nach bis in den Meeresgrund seiner Träume, durchfiebert seine
Leidenschaft, durchsiebt seine Trunkenheit, nie geht ein Atemzug seelischer
Substanz bei ihm verloren, wird ein Gedanke übersprungen. Glied um Glied
hämmert er die psychologische Kette um die in der Kunst Gefangenen. Es
gibt bei ihm keine psychologischen Irrtümer, keine Verknotung, die sein
visionärer Intellekt, seine hellseherische Logik nicht durchleuchtete. Nie
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131