Seite - 99 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Welt. In allen diesen Werken erlöst die Natur von der Menschenwelt.
Dostojewski aber fehlt die Landschaft, fehlt die Entspannung. Sein Kosmos
ist nicht die Welt, sondern nur der Mensch. Er ist taub für Musik, blind für
Bilder, stumpf für Landschaft: mit einer ungeheueren Gleichgültigkeit gegen
die Natur, gegen die Kunst ist sein unergründliches, sein unvergleichliches
Wissen um den Menschen bezahlt. Und alles Nur-Menschliche hat eine Trübe
von Unzulänglichkeit. Sein Gott wohnt nur in der Seele, nicht auch in den
Dingen, ihm fehlt jenes kostbare Korn Pantheismus, das die deutschen, das
die hellenischen Werke so selig und so befreiend macht. Seine, Dostojewskis,
Werke, sie spielen alle irgendwie in ungelüfteten Stuben, in rußigen Straßen,
in dunstigen Kneipen, eine dumpfe menschliche, allzu menschliche Luft ist
darinnen, die nicht klärend durchwühlt wird vom Wind aus den Himmeln und
dem Sturz der Jahreszeiten. Man versuche doch einmal sich zu entsinnen bei
seinen großen Werken, bei „Raskolnikoff“, dem „Idioten“, bei den
„Karamasoffs“, dem „Jüngling“, in welcher Jahreszeit, in welcher Landschaft
sie spielen. Ist es Sommer, Frühling oder Herbst? Vielleicht ist es irgendwo
gesagt. Aber man fühlt es nicht. Man atmet es, man schmeckt es, man spürt,
man erlebt es nicht. Sie spielen alle nur irgendwo im Dunkel des Herzens, das
die Blitzschläge der Erkenntnis sprunghaft erhellen, im luftleeren Hohlraum
des Hirnes, ohne Sterne und Blumen, ohne Stille und Schweigen.
Großstadtrauch verdunkelt den Himmel ihrer Seele. Es fehlen ihnen die
Ruhepunkte der Erlösung vom Menschlichen, jene seligsten
Entspannungen, die besten des Menschen, wenn er den Blick von sich selbst
und seinen Leiden gegen die fühllose, leidenschaftslose Welt kehrt. Das ist
das Schattenhafte in seinen Büchern: wie von einer grauen Wand von Elend
und Dunkelheit heben sich seine Gestalten ab, sie stehen nicht frei und klar in
einer wirklichen Welt, sondern in einer Unendlichkeit bloß des Gefühls. Seine
Sphäre ist Seelenwelt und nicht Natur, seine Welt nur die Menschheit.
Aber auch seine Menschheit selbst, so wunderbar wahrhaftig jeder einzelne
ist, so fehllos ihr logischer Organismus, auch sie ist in ihrer Gesamtheit in
einem gewissen Sinne unwirklich: etwas von Gestalten aus Träumen haftet
ihnen an, und ihr Schritt geht im Raumlosen wie der von Schatten. Damit sei
nicht gesagt, daß sie irgendwie unwahr wären. Im Gegenteil: sie sind
überwahr. Denn Dostojewskis Psychologie ist eine fehllose, aber seine
Menschen sind nicht plastisch, sondern sublim gesehen und durchfühlt, weil
sie einzig aus Seele gestaltet sind und nicht aus Körperlichkeit. Dostojewskis
Menschen kennen wir alle nur als wandelndes und gewandeltes Gefühl,
Wesen aus Nerven und Seelen, bei denen man es fast vergißt, daß dieses Blut
durch Fleisch rinnt. Nie rührt man sie gewissermaßen körperlich an. Auf den
zwanzigtausend Seiten seines Werkes ist nie geschildert, daß einer seiner
Menschen sitzt, daß er ißt, daß er trinkt, immer fühlen, sprechen oder
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131