Seite - 100 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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kämpfen sie nur. Sie schlafen nicht (es sei denn, daß sie hellseherisch
träumen), sie ruhen nicht, immer sind sie im Fieber, immer denken sie. Nie
sind sie vegetativ, pflanzlich, tierisch, stumpf, immer nur bewegt, erregt,
gespannt, und immer, immer wach. Wach und sogar überwach. Immer im
Superlativ ihres Seins. Alle haben sie die seelische Übersichtigkeit
Dostojewskis, alle sind sie Hellseher, Telepathen, Halluzinanten, alle
pythische Menschen, und alle durchtränkt bis in die letzten Tiefen ihres
Wesens von psychologischer Wissenschaft. Im gemeinen, im banalen Leben
stehen – erinnern wir uns nur – die meisten Menschen im Konflikt
miteinander und dem Schicksal einzig darum, weil sie sich nicht verstehen,
weil sie einen bloß irdischen Verstand haben. Shakespeare, der andere große
Psychologe der Menschheit, baut die Hälfte seiner Tragödien auf diese
eingeborene Unwissenheit, auf dieses Fundament von Dunkel, das zwischen
Mensch und Mensch als Verhängnis, als Stein des Anstoßes liegt. Lear
mißtraut seiner Tochter, denn er ahnt ihren Edelmut nicht, die Größe der
Liebe, die sich hier in Schamhaftigkeit verschanzt, Othello wiederum nimmt
sich Jago als Einflüsterer, Cäsar liebt Brutus, seinen Mörder, alle sind sie dem
wahren Wesen der irdischen Welt, der Täuschung verfallen. Bei Shakespeare
wird wie im realen Leben das Mißverständnis, die irdische Unzulänglichkeit,
zeugende tragische Kraft, die Quelle aller Konflikte. Die Menschen
Dostojewskis aber, diese Überwissenden, sie kennen kein Mißverstehen.
Jeder ahnt immer prophetisch den anderen, sie verstehen einander restlos bis
in die letzten Tiefen, sie saugen sich das Wort aus dem Munde, noch ehe es
gesagt ist, und den Gedanken noch aus dem Mutterleib der Empfindung. Sie
wittern, sie ahnen einander alle im voraus, nie enttäuschen sie sich, nie
staunen sie, jedes einzelnen Seele umfaßt in geheimnisvoller Witterung schon
der anderen Sinn. Das Unbewußte, das Unterbewußte ist bei ihnen
überentwickelt, alle sind sie Propheten, alle Ahnende und Visionäre,
überladen von Dostojewski mit seiner eigenen mystischen Durchdringung des
Seins und des Wissens. Ich will ein Beispiel wählen, um deutlicher zu sein.
Nastassja Philipowna wird von Rogoschin ermordet. Sie weiß es vom ersten
Tage, da sie ihn erblickt, weiß es in jeder Stunde, in der sie ihm angehört, daß
er sie ermorden wird, sie flieht vor ihm, weil sie es weiß, und flüchtet zurück,
weil sie ihr eigenes Schicksal begehrt. Sie kennt das Messer sogar Monate
voraus, das ihr die Brust durchstößt. Und Rogoschin weiß es, auch er kennt
das Messer und ebenso Myschkin. Seine Lippen zittern, wenn er einmal im
Gespräch zufällig Rogoschin mit diesem Messer spielen sieht. Und
gleicherweise beim Morde Fedor Karamasoffs ist das Wissensunmögliche
allen bewußt. Der Staretz fällt in die Knie, weil er das Verbrechen wittert,
selbst der Spötter Rakitin weiß diese Zeichen zu deuten. Aljoscha küßt seines
Vaters Schulter, wie er von ihm Abschied nimmt, auch sein Gefühl weiß es,
daß er ihn nicht mehr sieht. Iwan fährt nach Tchermaschnjä, um nicht Zeuge
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131