Seite - 101 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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des Verbrechens zu sein. Der Schmutzfink Smerdjakoff sagt es ihm lächelnd
voraus. Alle, alle wissen sie es, und den Tag und die Stunde und den Ort aus
einer Überladenheit mit prophetischer Erkenntnis, die unwahrscheinlich ist in
ihrer Zuvielfältigkeit. Alle sind sie Propheten, Erkenner, alle Allesversteher.
Hier wieder in der Psychologie erkennt man jene zwiefache Form aller
Wahrheit für den Künstler. Obwohl Dostojewski den Menschen tiefer kennt
als irgendeiner vor ihm, so ist ihm doch Shakespeare überlegen als Kenner
der Menschheit. Er hat das Gemischte des Daseins erkannt, das Gemeine und
Gleichgültige neben das Grandiose gestellt, wo Dostojewski einen jeden ins
Unendliche steigert. Shakespeare hat die Welt im Fleisch erkannt,
Dostojewski im Geist. Seine Welt ist vielleicht die vollkommenste
Halluzination der Welt, ein tiefer und prophetischer Traum von der Seele, ein
Traum, der die Wirklichkeit noch überflügelt: aber Realismus, der über sich
selbst hinaus ins Phantastische reicht. Der Überrealist Dostojewski, der
Überschreiter aller Grenzen, er hat die Wirklichkeit nicht geschildert: er hat
sie über sich selbst hinaus gesteigert.
Von innen also, von der Seele allein, ist hier die Welt in Kunst gestaltet,
von innen gebunden, von innen erlöst. Diese Art von Kunst, die tiefste und
menschlichste aller, hat keine Vorfahren in der Literatur, weder in Rußland
noch irgendwo in der Welt. Dieses Werk hat nur Brüder in der Ferne. An die
griechischen Tragiker gemahnt manchmal der Krampf und die Not, dieses
Übermaß von Qual in den Menschen, die unter dem Griff des übermächtigen
Schicksales sich krümmen, an Michelangelo manchmal durch die mystische,
steinerne, unerlösbare Traurigkeit der Seele. Aber der wahre Bruder
Dostojewskis durch die Zeiten ist Rembrandt. Beide stammen sie aus einem
Leben von Mühsal, Entbehrung, Verachtung, Ausgestoßene der Irdischkeit,
gepeitscht von den Bütteln des Geldes in die tiefste Tiefe des menschlichen
Seins hinab. Beide wissen sie um den schöpferischen Sinn der Kontraste, den
ewigen Streit von Dunkel und Licht, und wissen, daß keine Schönheit tiefer
ist als die heilige der Seele, die aus der Nüchternheit des Seins gewonnen ist.
Wie Dostojewski seine Heiligen aus russischen Bauern, Verbrechern und
Spielern, gestaltet sich Rembrandt seine biblischen Figuren von den Modellen
der Hafengassen; beiden ist in den niedersten Formen des Lebens irgendeine
geheimnisvolle, neue Schönheit verborgen, beide finden sie ihren Christus im
Abhub des Volks. Beide wissen sie von dem ständigen Spiel und Widerspiel
der Erdenkräfte, von Licht und Dunkel, das gleich mächtig im Lebendigen
wie im Beseelten waltet, und hier wie dort ist alles Licht aus dem letzten
Dunkel des Lebens genommen. Je mehr man in die Tiefe der Bilder
Rembrandts, der Bücher Dostojewskis blickt, sieht man das letzte Geheimnis
der weltlichen und geistigen Formen sich entringen: Allmenschlichkeit. Und
wo die Seele zuerst nur schattenhafte Form, nur trübe Wirklichkeit zu schauen
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131