Seite - 104 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Aber Leidenschaft in der Kunst wird ebenso zerstörendes Element, als sie
bildnerisches war. Sie schafft nur das Chaos der Kräfte, dem der klare Geist
erst die ewigen Formen erlöst. Alle Kunst braucht die Unruhe als Antrieb der
Gestaltung, aber nicht minder eine überlegen-überlegte Ruhe der Auswägung
zu einer Vollendung. Dostojewskis mächtiger, die Wirklichkeit diamanten
durchdringender Geist weiß nun wohl um die marmorne, eherne Kühle, die
das große Kunstwerk umwittert. Er liebt, er vergöttert die große
Architektonik, er entwirft prachtvolle Maße, erhabene Ordnungen des
Weltbildes. Aber immer wieder überflutet das leidenschaftliche Gefühl die
Fundamente. Der Zwiespalt, der ewige zwischen Herz und Geist, wirkt auch
im Werke und nennt sich hier Kontrast von Architektonik und Leidenschaft.
Vergebens sucht Dostojewski als Künstler objektiv zu schaffen, außen zu
bleiben, bloß zu erzählen und zu gestalten, Epiker zu sein, Referent von
Geschehnissen, Analytiker der Gefühle. Unwiderstehlich reißt ihn seine
Leidenschaft in Leiden und Mitleiden immer wieder in die eigene Welt.
Immer ist etwas vom Chaos des Anfangs selbst in den vollendeten Werken
Dostojewskis, nie die Harmonie erreicht („Ich hasse die Harmonie“, so schreit
Iwan Karamasoff, der Verräter seiner geheimsten Gedanken). Auch hier ist
zwischen Form und Wille kein Friede, kein Ausgleich, sondern – o ewige
Zweiheit seines Wesens, alle Formen durchdringend von der kalten Schale bis
zum glühendsten Kerne! – ein unablässiger Kampf zwischen außen und
innen. Der ewige Dualismus seines Wesens heißt im epischen Werke Kampf
zwischen Architektur und Leidenschaft.
Nie erreicht Dostojewski in seinen Romanen, was man fachmännisch „den
epischen Vortrag“ nennt, jenes große Geheimnis, bewegtes Geschehen in
ruhiger Darstellung zu bändigen, das von Homer bis Gottfried Keller und
Tolstoi sich in unendlicher Ahnenreihe von Meister auf Meister vererbt.
Leidenschaftlich formt er seine Welt, und nur leidenschaftlich, nur erregt,
kann man sie genießen. Nie stellt sich in seinen Büchern jenes sanfte
rhythmische, einwiegende Gefühl der Behaglichkeit ein, nie fühlt man sich
sicher und außen gegenüber den Geschehnissen, gleichsam an dem sicheren
Ufer, Brandung und Tumult eines erregten Meeres schauspielhaft betrachtend.
Immer ist man innen bei ihm eingewühlt, verstrickt in die Tragödie. Wie eine
Krankheit erlebt man die Krise seiner Menschen im Blute, wie eine
Entzündung brennen die Probleme im aufgepeitschten Gefühl. Mit allen
unseren Sinnen taucht er uns in seine brennende Atmosphäre, stößt er uns an
den Abgrundrand der Seele, wo wir keuchend stehen, schwindeligen Gefühls,
mit abgerissenem Atem. Und erst, wenn unsere Pulse jagen wie die seinen,
wir selbst der dämonischen Leidenschaft verfallen sind, erst dann gehört sein
Werk ganz uns, gehören wir ihm ganz. Dostojewski will eben nur
angespannte, gesteigerte Menschen als Mitempfinder seiner Epik, so wie er
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131