Seite - 105 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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sie als seine Helden wählt. Die Leihbibliothekskonsumenten, die behaglichen
Flaneure des Lesens, die Spaziergänger auf den Bürgersteigen ausgetretener
Probleme, müssen auf ihn und er auf sie verzichten. Nur der brennende
Mensch, der leidenschaftlich entzündete, der glühende im Gefühl, findet
hinab in seine wahre Sphäre.
Es läßt sich nicht verleugnen, nicht verbergen, nicht verschönern: das
Verhältnis Dostojewskis zum Leser ist weder ein freundschaftliches noch ein
behagliches, sondern eine Zwietracht voll gefährlicher, grausamer, wollüstiger
Instinkte. Es ist eine leidenschaftliche Beziehung wie zwischen Mann und
Weib, nicht wie bei den andern Dichtern ein Verhältnis der Freundschaft und
des Vertrauens. Dickens oder Gottfried Keller, seine Zeitgenossen, führen mit
sanfter Überredung, mit musikalischer Lockung den Leser in ihre Welt, sie
plaudern ihn freundlich ins Geschehnis hinein, sie reizen nur die Neugier, die
Phantasie, nicht aber wie Dostojewski das ganze aufschäumende Herz. Er, der
Leidenschaftliche, will uns ganz haben, nicht bloß unsere Neugier, unser
Interesse, er begehrt unsere ganze Seele, selbst unsere Körperlichkeit. Zuerst
lädt er die innere Atmosphäre mit Elektrizität, raffiniert steigert er unsere
Reizbarkeit. Eine Art Hypnose setzt ein, ein Willensverlust in seinen
leidenschaftlichen Willen: wie das dumpfe Murmeln des Beschwörenden,
endlos und sinnlos umtut er den Sinn mit breiten Gesprächen, reizt mit
Geheimnis und Andeutungen die Anteilnahme bis tief nach innen. Er duldet
nicht, daß wir zu früh uns hingeben, er dehnt in wollüstigem Wissen die
Marter der Vorbereitung, Unruhe beginnt in einem leise zu kochen, aber
immer wieder verzögert er, neue Figuren vorschiebend, neue Bilder
entrollend, den Einblick in das Geschehnis. Ein wissender, ein wollüstiger
Erotiker, hält er seine, hält er unsere Hingebung mit teuflischer Willenskraft
zurück und steigert damit den innern Druck, die Gereiztheit der Atmosphäre
ins Unendliche. Schicksalsträchtig fühlt man über sich ein Gewölk von Tragik
(wie lange dauert es in Raskolnikoff, ehe man weiß, daß all diese sinnlosen
seelischen Zustände Vorbereitungen zu seinem Morde sind, und doch spürt
man längst in den Nerven Furchtbares voraus!), auf dem Himmel der Seele
wetterleuchtet schaurige Ahnung. Aber Dostojewskis sinnliche Wollüstigkeit
berauscht sich im Raffinement der Verzögerung, sie prickelt wie Nadelstiche
kleine Andeutungen in die Haut des Empfindens. Mit satanischer
Verlangsamung stellt Dostojewski vor seinen großen Szenen noch Seiten und
Seiten mystischer und dämonischer Langweile, bis er in dem Reizmenschen
(ein anderer fühlt ja nichts von diesen Dingen) ein geistiges Fieber, eine
physische Qual erzeugt. Auch das Lustgefühl der Spannung treibt dieser
Fanatiker des Kontrastes bis in den Schmerz hinein, und erst dann, wenn im
überheizten Kessel der Brust das Gefühl schon brodelt und die Wände
sprengen will, dann erst schlägt er einem mit dem Hammer auf das Herz,
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131