Seite - 107 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Inspiration nachläßt, haben sie auch breite, sandige Stellen. Schon scheinen
sie zu versiegen. In stockendem Lauf winden sich mühsam durch
Krümmungen und Wirrungen die Geschehnisse weiter, die Flut stagniert an
den Sandbänken der Gespräche für Stunden, bis sie wieder dann die eigene
Tiefe und den Schwung ihrer Leidenschaft findet.
Aber dann, in der Nähe des Meeres, der Unendlichkeit, kommen plötzlich
jene unerhörten Stellen der Stromschnelle, wo sich die breite Erzählung zum
Wirbel zusammenballt, die Seiten gleichsam fliegen, das Tempo beängstigend
wird, die Seele mitgerissen in den Abgrund des Gefühls hinpfeilt. Schon fühlt
man die nahe Tiefe, schon donnert der Wassersturz her, die ganze breite
schwere Masse ist plötzlich in schäumende Geschwindigkeit verwandelt, und
wie die Strömung der Erzählung, gleichsam magnetisch vom Katarakt
angezogen, der Katharsis zuschäumt, so sausen wir selbst unwillkürlich
rascher durch diese Seiten und stürzen dann plötzlich in den Abgrund des
Geschehens, gleichsam mit zerschmetterten Gefühlen.
Und dieses Gefühl, wo gleichsam die ungeheuere Summe des Lebens in
einer einzigen Ziffer gezogen ist, dieses Gefühl äußerster Konzentration,
qualvoll und schwindlig zugleich, das er selbst einmal das „Turmgefühl“
nennt, – den göttlichen Wahnsinn, sich über die eigene Tiefe zu beugen und
die Seligkeit des tödlichen Niedersturzes vorempfindend zu genießen – dieses
äußerste Gefühl, in dem man mit dem ganzen Leben auch noch den Tod
empfindet, es ist immer auch die unsichtbare Spitze der großen epischen
Pyramiden Dostojewskis. Alle Romane sind vielleicht nur geschrieben um
dieser Augenblicke der weißglühenden Empfindung willen. Zwanzig oder
dreißig solcher grandioser Stellen hat Dostojewski geschaffen, und alle sind
sie von so unvergleichlicher Vehemenz der leidenschaftlichen
Zusammenballung, daß sie einem nicht nur beim ersten Lesen, da sie einen
gleichsam noch wehrlos überfallen, sondern noch beim vierten oder fünften
Wiederholen wie eine Stichflamme durch das Herz fahren. Immer sind in
diesem Augenblick plötzlich alle Menschen des ganzen Buches in einem
Zimmer versammelt, immer alle in der äußersten Intensität ihres
Eigenwillens. Alle Straßen, alle Ströme, alle Kräfte laufen magisch
zusammen, lösen sich auf in einer einzigen Geste, einer einzigen Gebärde,
einem einzigen Wort. Ich erinnere nur an die Szene in den „Dämonen“, wo
die Ohrfeige Schatows mit ihrem „trockenen Schlag“ das Spinnweb des
Geheimnisses zerreißt, wie im „Idioten“ Nastassja Philipowna
die 100 000 Rubel ins Feuer wirft, oder die Geständnisszene in
„Raskolnikoff“ und den „Karamasoff“. In diesen höchsten, schon nicht mehr
stofflichen, in diesen ganz elementaren Momenten seiner Kunst gattet sich
restlos Architektur und Leidenschaft. Nur in der Ekstase ist Dostojewski der
einheitliche Mensch, nur in diesen kurzen Augenblicken der vollendete
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131