Seite - 109 - in Drei Meister - Balzac - Dickens - Dostojewski
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Wetterstürze des Geschicks, aber auch diese reinigende Kraft der seelischen
Gewitter. Mit keinem epischen Werk läßt sich diese Kunst vergleichen, und
darum wirkt Dostojewski immer in seinen großen Augenblicken als Tragiker,
seine Romane gleichsam wie umhüllte, verwandelte Dramen; im letzten sind
die Karamasoff Geist vom Geiste der griechischen Tragödie, Fleisch vom
Fleische Shakespeares. Nackt steht in ihnen, wehrlos und klein, der riesige
Mensch unter dem tragischen Himmel des Schicksals.
Und seltsam, in diesen leidenschaftlichen Augenblicken der Niederstürze
verliert plötzlich der Roman Dostojewskis auch seinen erzählerischen
Charakter. Die dünne epische Umschalung schmilzt ab in der Hitze des
Gefühls und verdunstet; nichts bleibt als der blasse weißglühende Dialog. Die
großen Szenen in Dostojewskis Romanen sind nackte dramatische Dialoge.
Man kann sie, ohne ein Wort beizufügen oder fortzulassen, auf die Bühne
pflanzen, so festgezimmert ist jede einzelne Figur, so zur dramatischen
Sekunde verdichtet sich in ihnen der breite strömende Gehalt der großen
Romane. Das tragische Gefühl in Dostojewski, das immer zu Endgültigem
drängt, zur gewaltsamen Spannung, zur blitzartigen Entladung, schafft in
diesen Höhepunkten sein episches Kunstwerk scheinbar restlos zum
dramatischen um.
Was in diesen Szenen an dramatischer, ja theatralischer Schlagkraft
enthalten ist, haben selbstverständlich die eilfertigen Theaterhandwerker und
Boulevarddramatiker zuerst erkannt, lang vor den Philologen, und rasch
einige robuste Theaterstücke aus dem „Raskolnikoff“, dem „Idioten“, den
„Karamasoff“ gezimmert. Aber hier hat sich erwiesen, wie kläglich solche
Versuche scheitern, Figuren Dostojewskis von außen, von ihrer
Körperlichkeit und ihrem Schicksal zu fassen, sie aus ihrer Sphäre, der
Seelenwelt, zu heben und von der gewitternden Atmosphäre der rhythmischen
Reizbarkeit abzulösen. Wie abgeschälte Baumstämme, nackt und leblos,
wirken diese Figuren dramatisch im Vergleich zu ihrer lebendigen, raunenden,
rauschenden Wipfelhaftigkeit, die an die Himmel rührt und jede doch mit
tausend geheimen Nervenfäden im epischen Erdreich wurzelt. Ihr Aderwerk,
breitfältig verästelt auf Hunderten von Seiten, zieht seine stärkste bildnerische
Kraft aus dem Dunkel, aus Andeutung und Ahnung. Die Psychologie
Dostojewskis ist keine für grelles Lampenlicht, sie spottet ihrer „Bearbeiter“
und Vereinfacher. Denn in dieser epischen Unterwelt gibt es geheimnisvolle
psychische Kontakte, Unterströmungen und Nuancierungen. Nicht aus
sichtbaren Gesten, sondern aus tausend und tausend einzelnen Andeutungen
bildet und formt sich bei ihm eine Gestalt, nichts Spinnwebzarteres kennt die
Literatur, als dies seelische Netzwerk. Um einmal die Durchgängigkeit dieser
subkutanen, gleichsam unter der Haut fließenden Unterströmungen der
Erzählung zu empfinden, versuche man zur Probe einen Roman Dostojewskis
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Drei Meister
Balzac - Dickens - Dostojewski
- Titel
- Drei Meister
- Untertitel
- Balzac - Dickens - Dostojewski
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1920
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 134
- Schlagwörter
- Literatur, Schriftsteller
- Kategorien
- Weiteres Belletristik
Inhaltsverzeichnis
- Romain Rolland als Dank für seine unerschütterliche Freundschaft in lichten und dunklen Jahren 5
- Balzac 7
- Dickens 29
- Dostojewski 50
- Einklang 51
- Das Antlitz 54
- Die Tragödie seines Lebens 56
- Sinn seines Schicksals 66
- Die Menschen Dostojewskis 77
- Realismus und Phantastik 90
- Architektur und Leidenschaft 103
- Der Überschreiter der Grenzen 113
- Die Gottesqual 121
- Vita Triumphatrix 131